Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

und Systeme, und ist nicht geringere Consequenz
das Einzige, was die ihrigen von denen der erklär-
ten Dogmatiker unterscheidet? Wir alle, Empiri-
ker und Dogmatiker, irren in dämmerndem Hell-
dunkel von wandelnden Gestalten umgaukelt. Wer
diese Erscheinungen für das hält, was sie wirklich
sind, für zusammengesetzt aus Täuschung und
Wahrheit, und die letztern von einander zu son-
dern sucht, und zu dem Ende jene Gestalten mit
der Fackel der Philosophie beleuchtet, und sie von
so vielen Seiten betrachtet, wie er auffassen kann,
wird immer mehr von den wahren Urgestalten er-
kennen, wenn er auch nie dahin gelanget, sie von
aller Täuschung befreyet zu erblicken. Aber wer
die Dämmerung für helles Mittagslicht und die
nächtlichen Schatten für Wirklichkeiten hält, und
nie das Zeugniss der Sinne zu berichtigen sucht,
irret ewig betrogen umher und umarmet jeden Au-
genblick eine Wolke statt einer Juno. Jener ist der
Dogmatiker, und den lasset unangetastet, oder ihr
verewigt die Kindheit des Menschen! Nur gegen
diesen richtet eure Declamationen: denn dieser hat
den Dünkel des Wissens, da er nichts weiss, und
glaubt sich im Besitze klarer Begriffe, da ihm alles
dunkel und verworren erscheint.



Ge-

und Systeme, und ist nicht geringere Consequenz
das Einzige, was die ihrigen von denen der erklär-
ten Dogmatiker unterscheidet? Wir alle, Empiri-
ker und Dogmatiker, irren in dämmerndem Hell-
dunkel von wandelnden Gestalten umgaukelt. Wer
diese Erscheinungen für das hält, was sie wirklich
sind, für zusammengesetzt aus Täuschung und
Wahrheit, und die letztern von einander zu son-
dern sucht, und zu dem Ende jene Gestalten mit
der Fackel der Philosophie beleuchtet, und sie von
so vielen Seiten betrachtet, wie er auffassen kann,
wird immer mehr von den wahren Urgestalten er-
kennen, wenn er auch nie dahin gelanget, sie von
aller Täuschung befreyet zu erblicken. Aber wer
die Dämmerung für helles Mittagslicht und die
nächtlichen Schatten für Wirklichkeiten hält, und
nie das Zeugniſs der Sinne zu berichtigen sucht,
irret ewig betrogen umher und umarmet jeden Au-
genblick eine Wolke statt einer Juno. Jener ist der
Dogmatiker, und den lasset unangetastet, oder ihr
verewigt die Kindheit des Menschen! Nur gegen
diesen richtet eure Declamationen: denn dieser hat
den Dünkel des Wissens, da er nichts weiſs, und
glaubt sich im Besitze klarer Begriffe, da ihm alles
dunkel und verworren erscheint.



Ge-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0172" n="152"/>
und Systeme, und ist nicht geringere Consequenz<lb/>
das Einzige, was die ihrigen von denen der erklär-<lb/>
ten Dogmatiker unterscheidet? Wir alle, Empiri-<lb/>
ker und Dogmatiker, irren in dämmerndem Hell-<lb/>
dunkel von wandelnden Gestalten umgaukelt. Wer<lb/>
diese Erscheinungen für das hält, was sie wirklich<lb/>
sind, für zusammengesetzt aus Täuschung und<lb/>
Wahrheit, und die letztern von einander zu son-<lb/>
dern sucht, und zu dem Ende jene Gestalten mit<lb/>
der Fackel der Philosophie beleuchtet, und sie von<lb/>
so vielen Seiten betrachtet, wie er auffassen kann,<lb/>
wird immer mehr von den wahren Urgestalten er-<lb/>
kennen, wenn er auch nie dahin gelanget, sie von<lb/>
aller Täuschung befreyet zu erblicken. Aber wer<lb/>
die Dämmerung für helles Mittagslicht und die<lb/>
nächtlichen Schatten für Wirklichkeiten hält, und<lb/>
nie das Zeugni&#x017F;s der Sinne zu berichtigen sucht,<lb/>
irret ewig betrogen umher und umarmet jeden Au-<lb/>
genblick eine Wolke statt einer Juno. Jener ist der<lb/>
Dogmatiker, und den lasset unangetastet, oder ihr<lb/>
verewigt die Kindheit des Menschen! Nur gegen<lb/>
diesen richtet eure Declamationen: denn dieser hat<lb/>
den Dünkel des Wissens, da er nichts wei&#x017F;s, und<lb/>
glaubt sich im Besitze klarer Begriffe, da ihm alles<lb/>
dunkel und verworren erscheint.</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Ge-</hi> </fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[152/0172] und Systeme, und ist nicht geringere Consequenz das Einzige, was die ihrigen von denen der erklär- ten Dogmatiker unterscheidet? Wir alle, Empiri- ker und Dogmatiker, irren in dämmerndem Hell- dunkel von wandelnden Gestalten umgaukelt. Wer diese Erscheinungen für das hält, was sie wirklich sind, für zusammengesetzt aus Täuschung und Wahrheit, und die letztern von einander zu son- dern sucht, und zu dem Ende jene Gestalten mit der Fackel der Philosophie beleuchtet, und sie von so vielen Seiten betrachtet, wie er auffassen kann, wird immer mehr von den wahren Urgestalten er- kennen, wenn er auch nie dahin gelanget, sie von aller Täuschung befreyet zu erblicken. Aber wer die Dämmerung für helles Mittagslicht und die nächtlichen Schatten für Wirklichkeiten hält, und nie das Zeugniſs der Sinne zu berichtigen sucht, irret ewig betrogen umher und umarmet jeden Au- genblick eine Wolke statt einer Juno. Jener ist der Dogmatiker, und den lasset unangetastet, oder ihr verewigt die Kindheit des Menschen! Nur gegen diesen richtet eure Declamationen: denn dieser hat den Dünkel des Wissens, da er nichts weiſs, und glaubt sich im Besitze klarer Begriffe, da ihm alles dunkel und verworren erscheint. Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/172
Zitationshilfe: Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/172>, abgerufen am 29.03.2024.