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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An sich betr.
äußern Gegenstandes sie anders bestimmet, so bleibt sie die-
selbe und wird nur durch den hinzugekommenen äußern sinn-
lichen Eindruck, einer wahren äußern Empfindung viel ähn-
licher und gleicher gemachet, als sie vorher durch die sinnli-
che Vorstellung allein war. Also ist der scheinbare Gegen-
stand der unächten äußern Empfindungen allemal der Ge-
genstand derjenigen äußerlichen vergangenen oder künftigen
Empfindung die in der sinnlichen Vorstellung, welche der
Grund des Blendwerks ist unvollständig schon enthalten
war. Daher empfinden Verrückte, Träumende, Wahr-
sager, Betrunckene, Tolle, Verliebte, Zornige, Furchtsa-
me, etc. ihrer Meynung nach, jederzeit das, was ihnen ihre
Einbildungen, Vorhersehungen, Erwartungen, Ahndun-
gen, Triebe oder Leidenschaften ins Gemüth bringen.

§. 150.

Wenn Nerven, die auf obige Weise unächt empfinden,
sich zugleich in mechanische Maschinen ausbreiten, so erre-
gen sie natürlicher Weise darinn eben solche thierische Be-
wegungen, als erfolgen müßten, wenn die Empfindung ächt
und mit derselben starken sinnlichen Vorstellung vergesell-
schaftet gewesen wäre. Man muß aber übrigens mit diesen
unächten Empfindungen gewisse andre nicht verwechseln,
die wirkliche Gegenstände außerhalb den Nerven, aber nur
nicht außerhalb dem Werkzeuge eines äußern Sinnes ha-
ben, z. E. wenn man bey einer Entzündung des Auges
Funken sieht, oder bey einer Entzündung des Ohres, oder
wenn die Luft in seinen Höhlen versperret und ausgedehnet
wird, Klingen und Brausen der Ohren hat. Dieß sind
wahre äußere Empfindungen, nur mit einem irrigen Ur-
theile verbunden. Die Nerven des Auges und Ohres wer-
den wirklich durch Etwas außer ihnen, aber im Auge, im
Ohre selbst, sinnlich gerühret, und da dieß der Seele, die
gewohnt ist, die Gegenstände, die ihre Nerven äußerlich sinn-
lich rühren, außerhalb dem Körper zu finden, fremd ist, so
urtheilet sie in solchen Fällen fälschlich, daß diese äußern

sinnli-

I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr.
aͤußern Gegenſtandes ſie anders beſtimmet, ſo bleibt ſie die-
ſelbe und wird nur durch den hinzugekommenen aͤußern ſinn-
lichen Eindruck, einer wahren aͤußern Empfindung viel aͤhn-
licher und gleicher gemachet, als ſie vorher durch die ſinnli-
che Vorſtellung allein war. Alſo iſt der ſcheinbare Gegen-
ſtand der unaͤchten aͤußern Empfindungen allemal der Ge-
genſtand derjenigen aͤußerlichen vergangenen oder kuͤnftigen
Empfindung die in der ſinnlichen Vorſtellung, welche der
Grund des Blendwerks iſt unvollſtaͤndig ſchon enthalten
war. Daher empfinden Verruͤckte, Traͤumende, Wahr-
ſager, Betrunckene, Tolle, Verliebte, Zornige, Furchtſa-
me, ꝛc. ihrer Meynung nach, jederzeit das, was ihnen ihre
Einbildungen, Vorherſehungen, Erwartungen, Ahndun-
gen, Triebe oder Leidenſchaften ins Gemuͤth bringen.

§. 150.

Wenn Nerven, die auf obige Weiſe unaͤcht empfinden,
ſich zugleich in mechaniſche Maſchinen ausbreiten, ſo erre-
gen ſie natuͤrlicher Weiſe darinn eben ſolche thieriſche Be-
wegungen, als erfolgen muͤßten, wenn die Empfindung aͤcht
und mit derſelben ſtarken ſinnlichen Vorſtellung vergeſell-
ſchaftet geweſen waͤre. Man muß aber uͤbrigens mit dieſen
unaͤchten Empfindungen gewiſſe andre nicht verwechſeln,
die wirkliche Gegenſtaͤnde außerhalb den Nerven, aber nur
nicht außerhalb dem Werkzeuge eines aͤußern Sinnes ha-
ben, z. E. wenn man bey einer Entzuͤndung des Auges
Funken ſieht, oder bey einer Entzuͤndung des Ohres, oder
wenn die Luft in ſeinen Hoͤhlen verſperret und ausgedehnet
wird, Klingen und Brauſen der Ohren hat. Dieß ſind
wahre aͤußere Empfindungen, nur mit einem irrigen Ur-
theile verbunden. Die Nerven des Auges und Ohres wer-
den wirklich durch Etwas außer ihnen, aber im Auge, im
Ohre ſelbſt, ſinnlich geruͤhret, und da dieß der Seele, die
gewohnt iſt, die Gegenſtaͤnde, die ihre Nerven aͤußerlich ſinn-
lich ruͤhren, außerhalb dem Koͤrper zu finden, fremd iſt, ſo
urtheilet ſie in ſolchen Faͤllen faͤlſchlich, daß dieſe aͤußern

ſinnli-
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[146/0170] I Th. Thier. Seelenkr. 2 Kap. An ſich betr. aͤußern Gegenſtandes ſie anders beſtimmet, ſo bleibt ſie die- ſelbe und wird nur durch den hinzugekommenen aͤußern ſinn- lichen Eindruck, einer wahren aͤußern Empfindung viel aͤhn- licher und gleicher gemachet, als ſie vorher durch die ſinnli- che Vorſtellung allein war. Alſo iſt der ſcheinbare Gegen- ſtand der unaͤchten aͤußern Empfindungen allemal der Ge- genſtand derjenigen aͤußerlichen vergangenen oder kuͤnftigen Empfindung die in der ſinnlichen Vorſtellung, welche der Grund des Blendwerks iſt unvollſtaͤndig ſchon enthalten war. Daher empfinden Verruͤckte, Traͤumende, Wahr- ſager, Betrunckene, Tolle, Verliebte, Zornige, Furchtſa- me, ꝛc. ihrer Meynung nach, jederzeit das, was ihnen ihre Einbildungen, Vorherſehungen, Erwartungen, Ahndun- gen, Triebe oder Leidenſchaften ins Gemuͤth bringen. §. 150. Wenn Nerven, die auf obige Weiſe unaͤcht empfinden, ſich zugleich in mechaniſche Maſchinen ausbreiten, ſo erre- gen ſie natuͤrlicher Weiſe darinn eben ſolche thieriſche Be- wegungen, als erfolgen muͤßten, wenn die Empfindung aͤcht und mit derſelben ſtarken ſinnlichen Vorſtellung vergeſell- ſchaftet geweſen waͤre. Man muß aber uͤbrigens mit dieſen unaͤchten Empfindungen gewiſſe andre nicht verwechſeln, die wirkliche Gegenſtaͤnde außerhalb den Nerven, aber nur nicht außerhalb dem Werkzeuge eines aͤußern Sinnes ha- ben, z. E. wenn man bey einer Entzuͤndung des Auges Funken ſieht, oder bey einer Entzuͤndung des Ohres, oder wenn die Luft in ſeinen Hoͤhlen verſperret und ausgedehnet wird, Klingen und Brauſen der Ohren hat. Dieß ſind wahre aͤußere Empfindungen, nur mit einem irrigen Ur- theile verbunden. Die Nerven des Auges und Ohres wer- den wirklich durch Etwas außer ihnen, aber im Auge, im Ohre ſelbſt, ſinnlich geruͤhret, und da dieß der Seele, die gewohnt iſt, die Gegenſtaͤnde, die ihre Nerven aͤußerlich ſinn- lich ruͤhren, außerhalb dem Koͤrper zu finden, fremd iſt, ſo urtheilet ſie in ſolchen Faͤllen faͤlſchlich, daß dieſe aͤußern ſinnli-

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/170>, abgerufen am 28.03.2024.