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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

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I Th. Th. Seel. 3 Kap. Jhr Einfl. in den Mechan.
gefallen wären, und ihrer Bewegung eine gewisse Trägheit
giebt, welche man das Schmachten derselben nennet.

§. 328.

Die Scham, (Beschämung §. 309.) ist eine der ge-
lindesten unangenehmen Leidenschaften. Gleichwohl verän-
dert und vermehret ihre Unlust doch die Lebensbewegungen
so stark, daß man den Herzschlag dabey fühlet, den man
sonst nicht empfindet. Die Vorhersehung bey dieser Leiden-
schaft besteht darinn, daß wir an andern die Merkmale ih-
rer Verachtung gegen uns wahrnehmen werden, welche zu-
künftige Empfindung wir verabscheuen, und um ihr Ge-
gentheil hervorzubringen, den Anblick derer zu vermeiden
trachten, deren Verachtung wir erwarten. Man sieht die
Spuren der Seelenwirkungen dieser Vorhersehung in den
weggewendeten, niedergeschlagenen Blicken und der Ver-
bergung des Gesichts, welches lauter Ausdrücke von dem
Zustande der Erfüllung der Vorhersehung sind. Durch den
Zusammenhang der Kräfte überhaupt haben die Seelen-
wirkungen der Schamhaftigkeit die ihnen ganz eigne Folge
im menschlichen Körper, daß sie das Blut im Angesichte
aufhalten, als ob die zurückführenden Adern unterbunden
wären, oder, daß sie es, durch einen besondern Antrieb, nach
dem Gesichte leiten: woher die Schamröthe ihren Ursprung
nimmt. Vergl. d. A. 3 B. 136 St.

§. 329.

So wie ein jedes denkende Thier seinen Haupttrieb und
besondern sinnlichen Character hat, §. 295. so besitzt auch
jedes eine Hauptleidenschaft, welche, in so fern es dar-
nach seine willkührlichen Handlungen mehrentheils bestim-
met, den Character seiner Sinnlichkeit mit bilden hilft,
§. 295. wodurch derselbe willkührlicher, mehr in des Thie-
res Gewalt gestellet wird, und eine sittliche Seite erhält. §.
296. 297. Da nun sowohl die Leidenschaften, als die
Triebe, und insbesondre die letzten, §. 292. auf eine nähe-
re Weise von der Empfindlichkeit der Nerven abhängen,
§. 90. 91. 66. so setzen die Hauptleidenschaften und Haupt-

triebe

I Th. Th. Seel. 3 Kap. Jhr Einfl. in den Mechan.
gefallen waͤren, und ihrer Bewegung eine gewiſſe Traͤgheit
giebt, welche man das Schmachten derſelben nennet.

§. 328.

Die Scham, (Beſchaͤmung §. 309.) iſt eine der ge-
lindeſten unangenehmen Leidenſchaften. Gleichwohl veraͤn-
dert und vermehret ihre Unluſt doch die Lebensbewegungen
ſo ſtark, daß man den Herzſchlag dabey fuͤhlet, den man
ſonſt nicht empfindet. Die Vorherſehung bey dieſer Leiden-
ſchaft beſteht darinn, daß wir an andern die Merkmale ih-
rer Verachtung gegen uns wahrnehmen werden, welche zu-
kuͤnftige Empfindung wir verabſcheuen, und um ihr Ge-
gentheil hervorzubringen, den Anblick derer zu vermeiden
trachten, deren Verachtung wir erwarten. Man ſieht die
Spuren der Seelenwirkungen dieſer Vorherſehung in den
weggewendeten, niedergeſchlagenen Blicken und der Ver-
bergung des Geſichts, welches lauter Ausdruͤcke von dem
Zuſtande der Erfuͤllung der Vorherſehung ſind. Durch den
Zuſammenhang der Kraͤfte uͤberhaupt haben die Seelen-
wirkungen der Schamhaftigkeit die ihnen ganz eigne Folge
im menſchlichen Koͤrper, daß ſie das Blut im Angeſichte
aufhalten, als ob die zuruͤckfuͤhrenden Adern unterbunden
waͤren, oder, daß ſie es, durch einen beſondern Antrieb, nach
dem Geſichte leiten: woher die Schamroͤthe ihren Urſprung
nimmt. Vergl. d. A. 3 B. 136 St.

§. 329.

So wie ein jedes denkende Thier ſeinen Haupttrieb und
beſondern ſinnlichen Character hat, §. 295. ſo beſitzt auch
jedes eine Hauptleidenſchaft, welche, in ſo fern es dar-
nach ſeine willkuͤhrlichen Handlungen mehrentheils beſtim-
met, den Character ſeiner Sinnlichkeit mit bilden hilft,
§. 295. wodurch derſelbe willkuͤhrlicher, mehr in des Thie-
res Gewalt geſtellet wird, und eine ſittliche Seite erhaͤlt. §.
296. 297. Da nun ſowohl die Leidenſchaften, als die
Triebe, und insbeſondre die letzten, §. 292. auf eine naͤhe-
re Weiſe von der Empfindlichkeit der Nerven abhaͤngen,
§. 90. 91. 66. ſo ſetzen die Hauptleidenſchaften und Haupt-

triebe
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[320/0344] I Th. Th. Seel. 3 Kap. Jhr Einfl. in den Mechan. gefallen waͤren, und ihrer Bewegung eine gewiſſe Traͤgheit giebt, welche man das Schmachten derſelben nennet. §. 328. Die Scham, (Beſchaͤmung §. 309.) iſt eine der ge- lindeſten unangenehmen Leidenſchaften. Gleichwohl veraͤn- dert und vermehret ihre Unluſt doch die Lebensbewegungen ſo ſtark, daß man den Herzſchlag dabey fuͤhlet, den man ſonſt nicht empfindet. Die Vorherſehung bey dieſer Leiden- ſchaft beſteht darinn, daß wir an andern die Merkmale ih- rer Verachtung gegen uns wahrnehmen werden, welche zu- kuͤnftige Empfindung wir verabſcheuen, und um ihr Ge- gentheil hervorzubringen, den Anblick derer zu vermeiden trachten, deren Verachtung wir erwarten. Man ſieht die Spuren der Seelenwirkungen dieſer Vorherſehung in den weggewendeten, niedergeſchlagenen Blicken und der Ver- bergung des Geſichts, welches lauter Ausdruͤcke von dem Zuſtande der Erfuͤllung der Vorherſehung ſind. Durch den Zuſammenhang der Kraͤfte uͤberhaupt haben die Seelen- wirkungen der Schamhaftigkeit die ihnen ganz eigne Folge im menſchlichen Koͤrper, daß ſie das Blut im Angeſichte aufhalten, als ob die zuruͤckfuͤhrenden Adern unterbunden waͤren, oder, daß ſie es, durch einen beſondern Antrieb, nach dem Geſichte leiten: woher die Schamroͤthe ihren Urſprung nimmt. Vergl. d. A. 3 B. 136 St. §. 329. So wie ein jedes denkende Thier ſeinen Haupttrieb und beſondern ſinnlichen Character hat, §. 295. ſo beſitzt auch jedes eine Hauptleidenſchaft, welche, in ſo fern es dar- nach ſeine willkuͤhrlichen Handlungen mehrentheils beſtim- met, den Character ſeiner Sinnlichkeit mit bilden hilft, §. 295. wodurch derſelbe willkuͤhrlicher, mehr in des Thie- res Gewalt geſtellet wird, und eine ſittliche Seite erhaͤlt. §. 296. 297. Da nun ſowohl die Leidenſchaften, als die Triebe, und insbeſondre die letzten, §. 292. auf eine naͤhe- re Weiſe von der Empfindlichkeit der Nerven abhaͤngen, §. 90. 91. 66. ſo ſetzen die Hauptleidenſchaften und Haupt- triebe

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Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/344>, abgerufen am 25.04.2024.