Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

II Th. Nervenkräfte.
Empfindlichkeit haben, oder nicht. (A. 101 St.) Al-
lein man fand diesen Ausdruck so fremd, und hielt sich,
statt der großen Wahrheit, so sehr an ihn, daß zu be-
fürchten war, man würde darüber die Sache selbst ver-
lieren. Daher habe ich in dieser Schrift lieber den Aus-
druck vom äußern sinnlichen Eindrucke gebrauchen
wollen.

§. 404.

Hätte man bisher diesen Unterschied des äußern Ge-
fühls (äußern sinnlichen Eindrucks) von der äußern Em-
pfindung besser beobachtet, so wäre der Jrrthum der Alten,
den Whytt noch wieder erneuert hat, längst vergessen ge-
wesen, daß sich die ganze Seele im ganzen Körper aus-
breite, weil beym Empfinden die Seele die Oerter in allen
Punkten des Nerven bestimmet und unterscheidet, wo er
einen äußern sinnlichen Eindruck empfängt, das ist, wo er
fühlet. Selbst ein Materialist könnte eine so grundfalsche
Meynung nicht vertheidigen. Denn da jedermann nur
das Seele nennet, was sich in den Thieren seiner bewußt
seyn, oder Vorstellungen machen kann; so sind die Ner-
ven, die sich nichts vorstellen, sich selbst nicht fühlen, kein
Theil der Seele, sondern so müßte es wenigstens nur das
Gehirn seyn, und man könnte sich also das Empfinden der
Seele unmöglich als eine Eigenschaft der Nerven vorstel-
len, wenn man gleich das Gehirn für die Seele selbst
hielte. Der äußere sinnliche Eindruck (das äußere Gefühl)
ist, vom Berührungspunkte im Nerven an, bis zum Ur-
sprung desselben im Gehirne, nichts als eine geheime Be-
wegung im Nerven, die nur erst in dem Punkte im Ge-
hirne, wo sie eine materielle Jdee formiret, erkannt, vor-
gestellet, empfunden, von der Seele bemerket, von ihr ge-
fühlet wird. (Vergl. §. 80.) Wenn ihn also gleich der
Materialist für den Stoff der äußern Empfindung halten
will, so wird er doch nicht eher äußere Empfindung, als,
wenn er in diesen Fühlpunkt der Seele im Gehirne eintritt,

wo

II Th. Nervenkraͤfte.
Empfindlichkeit haben, oder nicht. (A. 101 St.) Al-
lein man fand dieſen Ausdruck ſo fremd, und hielt ſich,
ſtatt der großen Wahrheit, ſo ſehr an ihn, daß zu be-
fuͤrchten war, man wuͤrde daruͤber die Sache ſelbſt ver-
lieren. Daher habe ich in dieſer Schrift lieber den Aus-
druck vom aͤußern ſinnlichen Eindrucke gebrauchen
wollen.

§. 404.

Haͤtte man bisher dieſen Unterſchied des aͤußern Ge-
fuͤhls (aͤußern ſinnlichen Eindrucks) von der aͤußern Em-
pfindung beſſer beobachtet, ſo waͤre der Jrrthum der Alten,
den Whytt noch wieder erneuert hat, laͤngſt vergeſſen ge-
weſen, daß ſich die ganze Seele im ganzen Koͤrper aus-
breite, weil beym Empfinden die Seele die Oerter in allen
Punkten des Nerven beſtimmet und unterſcheidet, wo er
einen aͤußern ſinnlichen Eindruck empfaͤngt, das iſt, wo er
fuͤhlet. Selbſt ein Materialiſt koͤnnte eine ſo grundfalſche
Meynung nicht vertheidigen. Denn da jedermann nur
das Seele nennet, was ſich in den Thieren ſeiner bewußt
ſeyn, oder Vorſtellungen machen kann; ſo ſind die Ner-
ven, die ſich nichts vorſtellen, ſich ſelbſt nicht fuͤhlen, kein
Theil der Seele, ſondern ſo muͤßte es wenigſtens nur das
Gehirn ſeyn, und man koͤnnte ſich alſo das Empfinden der
Seele unmoͤglich als eine Eigenſchaft der Nerven vorſtel-
len, wenn man gleich das Gehirn fuͤr die Seele ſelbſt
hielte. Der aͤußere ſinnliche Eindruck (das aͤußere Gefuͤhl)
iſt, vom Beruͤhrungspunkte im Nerven an, bis zum Ur-
ſprung deſſelben im Gehirne, nichts als eine geheime Be-
wegung im Nerven, die nur erſt in dem Punkte im Ge-
hirne, wo ſie eine materielle Jdee formiret, erkannt, vor-
geſtellet, empfunden, von der Seele bemerket, von ihr ge-
fuͤhlet wird. (Vergl. §. 80.) Wenn ihn alſo gleich der
Materialiſt fuͤr den Stoff der aͤußern Empfindung halten
will, ſo wird er doch nicht eher aͤußere Empfindung, als,
wenn er in dieſen Fuͤhlpunkt der Seele im Gehirne eintritt,

wo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p>
              <pb facs="#f0426" n="402"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II</hi> Th. Nervenkra&#x0364;fte.</hi> </fw><lb/> <hi rendition="#et">Empfindlichkeit haben, oder nicht. (A. 101 St.) Al-<lb/>
lein man fand die&#x017F;en Ausdruck &#x017F;o fremd, und hielt &#x017F;ich,<lb/>
&#x017F;tatt der großen Wahrheit, &#x017F;o &#x017F;ehr an ihn, daß zu be-<lb/>
fu&#x0364;rchten war, man wu&#x0364;rde daru&#x0364;ber die Sache &#x017F;elb&#x017F;t ver-<lb/>
lieren. Daher habe ich in die&#x017F;er Schrift lieber den Aus-<lb/>
druck vom a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Eindrucke gebrauchen<lb/>
wollen.</hi> </p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 404.</head><lb/>
            <p>Ha&#x0364;tte man bisher die&#x017F;en Unter&#x017F;chied des a&#x0364;ußern Ge-<lb/>
fu&#x0364;hls (a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Eindrucks) von der a&#x0364;ußern Em-<lb/>
pfindung be&#x017F;&#x017F;er beobachtet, &#x017F;o wa&#x0364;re der Jrrthum der Alten,<lb/>
den <hi rendition="#fr">Whytt</hi> noch wieder erneuert hat, la&#x0364;ng&#x017F;t verge&#x017F;&#x017F;en ge-<lb/>
we&#x017F;en, daß &#x017F;ich die ganze Seele im ganzen Ko&#x0364;rper aus-<lb/>
breite, weil beym Empfinden die Seele die Oerter in allen<lb/>
Punkten des Nerven be&#x017F;timmet und unter&#x017F;cheidet, wo er<lb/>
einen a&#x0364;ußern &#x017F;innlichen Eindruck empfa&#x0364;ngt, das i&#x017F;t, wo er<lb/>
fu&#x0364;hlet. Selb&#x017F;t ein Materiali&#x017F;t ko&#x0364;nnte eine &#x017F;o grundfal&#x017F;che<lb/>
Meynung nicht vertheidigen. Denn da jedermann nur<lb/>
das Seele nennet, was &#x017F;ich in den Thieren &#x017F;einer bewußt<lb/>
&#x017F;eyn, oder Vor&#x017F;tellungen machen kann; &#x017F;o &#x017F;ind die Ner-<lb/>
ven, die &#x017F;ich nichts vor&#x017F;tellen, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nicht fu&#x0364;hlen, kein<lb/>
Theil der Seele, &#x017F;ondern &#x017F;o mu&#x0364;ßte es wenig&#x017F;tens nur das<lb/>
Gehirn &#x017F;eyn, und man ko&#x0364;nnte &#x017F;ich al&#x017F;o das Empfinden der<lb/>
Seele unmo&#x0364;glich als eine Eigen&#x017F;chaft der Nerven vor&#x017F;tel-<lb/>
len, wenn man gleich das Gehirn fu&#x0364;r die Seele &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
hielte. Der a&#x0364;ußere &#x017F;innliche Eindruck (das a&#x0364;ußere Gefu&#x0364;hl)<lb/>
i&#x017F;t, vom Beru&#x0364;hrungspunkte im Nerven an, bis zum Ur-<lb/>
&#x017F;prung de&#x017F;&#x017F;elben im Gehirne, nichts als eine geheime Be-<lb/>
wegung im Nerven, die nur er&#x017F;t in dem Punkte im Ge-<lb/>
hirne, wo &#x017F;ie eine materielle Jdee formiret, erkannt, vor-<lb/>
ge&#x017F;tellet, empfunden, von der Seele bemerket, von ihr ge-<lb/>
fu&#x0364;hlet wird. (Vergl. §. 80.) Wenn ihn al&#x017F;o gleich der<lb/>
Materiali&#x017F;t fu&#x0364;r den Stoff der a&#x0364;ußern Empfindung halten<lb/>
will, &#x017F;o wird er doch nicht eher a&#x0364;ußere Empfindung, als,<lb/>
wenn er in die&#x017F;en Fu&#x0364;hlpunkt der Seele im Gehirne eintritt,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">wo</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[402/0426] II Th. Nervenkraͤfte. Empfindlichkeit haben, oder nicht. (A. 101 St.) Al- lein man fand dieſen Ausdruck ſo fremd, und hielt ſich, ſtatt der großen Wahrheit, ſo ſehr an ihn, daß zu be- fuͤrchten war, man wuͤrde daruͤber die Sache ſelbſt ver- lieren. Daher habe ich in dieſer Schrift lieber den Aus- druck vom aͤußern ſinnlichen Eindrucke gebrauchen wollen. §. 404. Haͤtte man bisher dieſen Unterſchied des aͤußern Ge- fuͤhls (aͤußern ſinnlichen Eindrucks) von der aͤußern Em- pfindung beſſer beobachtet, ſo waͤre der Jrrthum der Alten, den Whytt noch wieder erneuert hat, laͤngſt vergeſſen ge- weſen, daß ſich die ganze Seele im ganzen Koͤrper aus- breite, weil beym Empfinden die Seele die Oerter in allen Punkten des Nerven beſtimmet und unterſcheidet, wo er einen aͤußern ſinnlichen Eindruck empfaͤngt, das iſt, wo er fuͤhlet. Selbſt ein Materialiſt koͤnnte eine ſo grundfalſche Meynung nicht vertheidigen. Denn da jedermann nur das Seele nennet, was ſich in den Thieren ſeiner bewußt ſeyn, oder Vorſtellungen machen kann; ſo ſind die Ner- ven, die ſich nichts vorſtellen, ſich ſelbſt nicht fuͤhlen, kein Theil der Seele, ſondern ſo muͤßte es wenigſtens nur das Gehirn ſeyn, und man koͤnnte ſich alſo das Empfinden der Seele unmoͤglich als eine Eigenſchaft der Nerven vorſtel- len, wenn man gleich das Gehirn fuͤr die Seele ſelbſt hielte. Der aͤußere ſinnliche Eindruck (das aͤußere Gefuͤhl) iſt, vom Beruͤhrungspunkte im Nerven an, bis zum Ur- ſprung deſſelben im Gehirne, nichts als eine geheime Be- wegung im Nerven, die nur erſt in dem Punkte im Ge- hirne, wo ſie eine materielle Jdee formiret, erkannt, vor- geſtellet, empfunden, von der Seele bemerket, von ihr ge- fuͤhlet wird. (Vergl. §. 80.) Wenn ihn alſo gleich der Materialiſt fuͤr den Stoff der aͤußern Empfindung halten will, ſo wird er doch nicht eher aͤußere Empfindung, als, wenn er in dieſen Fuͤhlpunkt der Seele im Gehirne eintritt, wo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/426
Zitationshilfe: Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/426>, abgerufen am 25.04.2024.