Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite
Von dem Embryo.
B. Geschichte der keimbereitenden und ausführenden
inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit,
wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit-
telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt
.

Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich-
keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, dass in frühester Zeit
die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist
für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als dass wir
hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf
Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch
geschichtlich nachweisen lässt, drei Modificationen der Meinungen
annehmen, nämlich 1. dass in frühester Zeit alle Spur einer Ge-
schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. dass
zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber
an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. dass von An-
fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt
und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch
Sömmerings Erfahrung widerlegt, dass bei menschlichen Embryo-
nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen
kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey.
Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder
minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Dass die
Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche
Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit
haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir
nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.)
hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: "Nun fragt es sich aber,"
heisst es bei ihm, "wann und wodurch entsteht die Geschlecht-
lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent-
weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den
Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh-
rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äusseres Moment
zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei-
nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins
auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst
späterhin in der Erscheinung hervortritt, so dass die anfängliche
Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-

Von dem Embryo.
B. Geschichte der keimbereitenden und ausführenden
inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit,
wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit-
telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt
.

Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich-
keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, daſs in frühester Zeit
die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist
für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als daſs wir
hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf
Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch
geschichtlich nachweisen läſst, drei Modificationen der Meinungen
annehmen, nämlich 1. daſs in frühester Zeit alle Spur einer Ge-
schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. daſs
zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber
an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. daſs von An-
fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt
und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch
Sömmerings Erfahrung widerlegt, daſs bei menschlichen Embryo-
nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen
kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey.
Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder
minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Daſs die
Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche
Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit
haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir
nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.)
hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: „Nun fragt es sich aber,“
heiſst es bei ihm, „wann und wodurch entsteht die Geschlecht-
lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent-
weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den
Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh-
rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äuſseres Moment
zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei-
nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins
auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst
späterhin in der Erscheinung hervortritt, so daſs die anfängliche
Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0414" n="386"/>
            <fw place="top" type="header">Von dem Embryo.</fw><lb/>
            <div n="4">
              <head>B. <hi rendition="#g">Geschichte der keimbereitenden und ausführenden<lb/>
inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit,<lb/>
wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit-<lb/>
telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt</hi>.</head><lb/>
              <p>Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich-<lb/>
keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, da&#x017F;s in frühester Zeit<lb/>
die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist<lb/>
für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als da&#x017F;s wir<lb/>
hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf<lb/>
Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch<lb/>
geschichtlich nachweisen lä&#x017F;st, drei Modificationen der Meinungen<lb/>
annehmen, nämlich 1. da&#x017F;s in frühester Zeit alle Spur einer Ge-<lb/>
schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. da&#x017F;s<lb/>
zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber<lb/>
an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. da&#x017F;s von An-<lb/>
fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt<lb/>
und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch<lb/>
Sömmerings Erfahrung widerlegt, da&#x017F;s bei menschlichen Embryo-<lb/>
nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen<lb/>
kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey.<lb/>
Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder<lb/>
minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Da&#x017F;s die<lb/>
Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche<lb/>
Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit<lb/>
haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir<lb/>
nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.)<lb/>
hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: &#x201E;Nun fragt es sich aber,&#x201C;<lb/>
hei&#x017F;st es bei ihm, &#x201E;wann und wodurch entsteht die Geschlecht-<lb/>
lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent-<lb/>
weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den<lb/>
Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh-<lb/>
rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äu&#x017F;seres Moment<lb/>
zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei-<lb/>
nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins<lb/>
auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst<lb/>
späterhin in der Erscheinung hervortritt, so da&#x017F;s die anfängliche<lb/>
Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[386/0414] Von dem Embryo. B. Geschichte der keimbereitenden und ausführenden inneren Geschlechtsorgane überhaupt bis zu der Zeit, wo die Verschiedenheit des Geschlechtes mehr unmit- telbar in die Augen fallende Differenzen bedingt. Man hat oft mit mehr oder minder Bestimmtheit und Gründlich- keit die Ansicht ausgesprochen und vertheidigt, daſs in frühester Zeit die spätere Geschlechtsdifferenz ganz und gar mangele. Die Frage ist für das ganze Gebiet der Physiologie zu wichtig, als daſs wir hier am Eingange der Genese der Geschlechtstheile nicht hierauf Rücksicht nehmen sollten. Man kann aber hier, wie es sich auch geschichtlich nachweisen läſst, drei Modificationen der Meinungen annehmen, nämlich 1. daſs in frühester Zeit alle Spur einer Ge- schlechtsverschiedenheit an dem ganzen Körper mangele; 2. daſs zwar keine Differenz in den Geschlechtstheilen, eine solche aber an dem Totalhabitus des Körpers vorkomme, und 3. daſs von An- fang an jedes Individuum in seinem Geschlechte genau bestimmt und individualisirt sey. Die erste Ansicht wird schon durch Sömmerings Erfahrung widerlegt, daſs bei menschlichen Embryo- nen schon in der achten Woche die Brust bei dem Weibchen kürzer und weiter, bei den Männern aber länger und enger sey. Diese Unterschiede sprechen sich aus gleiche Weise mehr oder minder auch an den übrigen Theilen des Körpers aus. Daſs die Differenz in den Geschlechtstheilen selbst später, und auf welche Weise sie hervortrete, werden wir bald zu erwähnen Gelegenheit haben. In Rücksicht der beiden anderen Ansichten aber können wir nur dasjenige, was der treffliche Burdach (Physiol. II. S. 577.) hierüber sagt, wörtlich unterschreiben: „Nun fragt es sich aber,“ heiſst es bei ihm, „wann und wodurch entsteht die Geschlecht- lichkeit? Es sind hier zwei Fälle möglich: Der Embryo ist ent- weder eine Zeit lang absolut geschlechtlos und wird, da er den Grund der Geschlechtlichkeit nicht in sich selbst enthält, wäh- rend seiner weiteren Entwickelung durch ein äuſseres Moment zur Geschlechtsverschiedenheit determinirt, oder er hat von sei- nem ersten Ursprunge an eine bestimmte Richtung seines Daseins auch in Hinsicht auf die Geschlechtlichkeit in sich, die aber erst späterhin in der Erscheinung hervortritt, so daſs die anfängliche Indifferenz der Zeugungsorgane zwar thatsächlich, aber nur Er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/414
Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/414>, abgerufen am 20.04.2024.