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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

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heimnisse sind hier in bündiger Wahrheit zu Tage gelegt.
Ueber die Beziehung der Dichtkunst zum Christenthum
ist ein köstliches Wort ausgesprochen, wie es bisher
noch nicht gehört war! Sehr neue und auffallende Sätze
sprach der Verfasser mit so sicherem Urtheil, in so be¬
gründeter Gestalt aus, daß man sich täuschen könnte
und meinen, er sage Bekanntes. Manche einfache Be¬
merkungen und Ausdrücke, die fast unscheinbar im Rede¬
flusse dahingehen, konnten nicht ohne Wegräumung ganzer
Massen von Irrthümern diese freie Bahn finden. Ueber
Schiller sagt er unvergleichliche Sachen, treffliche Wahr¬
heiten, durch Vorurtheil und Feigheit auch in erweck¬
teren Gemüthern bisher fast erstickt. Ueber den Karak¬
ter des Zeitalters, Goethe's, über die Eigenheiten seiner
Poesie, dann einzeln über den Faust, den Egmont, die
Iphigenia, Eugenia -- lauter goldene Worte, und darun¬
ter solche, die vorher noch nicht gesagt worden! Nur
ein großer Sinn ist solcher Auffassung fähig. -- Sehr
treffend hat der Verfasser in dieser Schrift selbst den
Grund angegeben, weßhalb in verschiedenen Zeitaltern
auch der Dichter in verschiedener Beschaffenheit dasteht.
Unser Zeitalter hat mit seiner ganzen Bildung auch die
Dichtkunst offenbar zu der Höhe geführt, wo die geson¬
derten Gebiete des Geistes in Verbindung treten, sich
vermischen und durchdringen. Unsere Dichter sind nicht
die des Mittelalters, wo heitere Naturgabe dem glück¬
lichen Minnesänger sein fertiges Fach anwies, innerhalb

heimniſſe ſind hier in buͤndiger Wahrheit zu Tage gelegt.
Ueber die Beziehung der Dichtkunſt zum Chriſtenthum
iſt ein koͤſtliches Wort ausgeſprochen, wie es bisher
noch nicht gehoͤrt war! Sehr neue und auffallende Saͤtze
ſprach der Verfaſſer mit ſo ſicherem Urtheil, in ſo be¬
gruͤndeter Geſtalt aus, daß man ſich taͤuſchen koͤnnte
und meinen, er ſage Bekanntes. Manche einfache Be¬
merkungen und Ausdruͤcke, die faſt unſcheinbar im Rede¬
fluſſe dahingehen, konnten nicht ohne Wegraͤumung ganzer
Maſſen von Irrthuͤmern dieſe freie Bahn finden. Ueber
Schiller ſagt er unvergleichliche Sachen, treffliche Wahr¬
heiten, durch Vorurtheil und Feigheit auch in erweck¬
teren Gemuͤthern bisher faſt erſtickt. Ueber den Karak¬
ter des Zeitalters, Goethe’s, uͤber die Eigenheiten ſeiner
Poeſie, dann einzeln uͤber den Fauſt, den Egmont, die
Iphigenia, Eugenia — lauter goldene Worte, und darun¬
ter ſolche, die vorher noch nicht geſagt worden! Nur
ein großer Sinn iſt ſolcher Auffaſſung faͤhig. — Sehr
treffend hat der Verfaſſer in dieſer Schrift ſelbſt den
Grund angegeben, weßhalb in verſchiedenen Zeitaltern
auch der Dichter in verſchiedener Beſchaffenheit daſteht.
Unſer Zeitalter hat mit ſeiner ganzen Bildung auch die
Dichtkunſt offenbar zu der Hoͤhe gefuͤhrt, wo die geſon¬
derten Gebiete des Geiſtes in Verbindung treten, ſich
vermiſchen und durchdringen. Unſere Dichter ſind nicht
die des Mittelalters, wo heitere Naturgabe dem gluͤck¬
lichen Minneſaͤnger ſein fertiges Fach anwies, innerhalb

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[348/0362] heimniſſe ſind hier in buͤndiger Wahrheit zu Tage gelegt. Ueber die Beziehung der Dichtkunſt zum Chriſtenthum iſt ein koͤſtliches Wort ausgeſprochen, wie es bisher noch nicht gehoͤrt war! Sehr neue und auffallende Saͤtze ſprach der Verfaſſer mit ſo ſicherem Urtheil, in ſo be¬ gruͤndeter Geſtalt aus, daß man ſich taͤuſchen koͤnnte und meinen, er ſage Bekanntes. Manche einfache Be¬ merkungen und Ausdruͤcke, die faſt unſcheinbar im Rede¬ fluſſe dahingehen, konnten nicht ohne Wegraͤumung ganzer Maſſen von Irrthuͤmern dieſe freie Bahn finden. Ueber Schiller ſagt er unvergleichliche Sachen, treffliche Wahr¬ heiten, durch Vorurtheil und Feigheit auch in erweck¬ teren Gemuͤthern bisher faſt erſtickt. Ueber den Karak¬ ter des Zeitalters, Goethe’s, uͤber die Eigenheiten ſeiner Poeſie, dann einzeln uͤber den Fauſt, den Egmont, die Iphigenia, Eugenia — lauter goldene Worte, und darun¬ ter ſolche, die vorher noch nicht geſagt worden! Nur ein großer Sinn iſt ſolcher Auffaſſung faͤhig. — Sehr treffend hat der Verfaſſer in dieſer Schrift ſelbſt den Grund angegeben, weßhalb in verſchiedenen Zeitaltern auch der Dichter in verſchiedener Beſchaffenheit daſteht. Unſer Zeitalter hat mit ſeiner ganzen Bildung auch die Dichtkunſt offenbar zu der Hoͤhe gefuͤhrt, wo die geſon¬ derten Gebiete des Geiſtes in Verbindung treten, ſich vermiſchen und durchdringen. Unſere Dichter ſind nicht die des Mittelalters, wo heitere Naturgabe dem gluͤck¬ lichen Minneſaͤnger ſein fertiges Fach anwies, innerhalb

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/362>, abgerufen am 19.04.2024.