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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

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ein dritter Autor gleichstellen läßt, so gebührt doch der
Frau von Guyon unter den Andern unbestreitbar ein
erster Platz; selbst der treffliche Jung-Stilling muß ihr
an geistiger Eigenheit und einem seltsamen Reize weit
nachstehn, obwohl er mehr äußeres Leben mit darstellt.
Diese wunderbare Frau, in deren Dasein alles, was im
Menschen leibt und lebt, sich vergeistigte, deren Sinne,
nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was sonst
nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemüth durch
Ueberreizung seine zartesten Anlagen bis zur Heldenstärke
trieb, ist ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen
Enthusiasmus. In diesem Gebiete, wo wir leider so
oft Schwächlichkeit und Albernheit ihr trübes Unwesen
treiben sehn, erscheint sie mit Licht und Kraft, mit
Philosophischem Scharfsinn und ächter Begeisterung, nicht
als verdrehte, unsichre Kopfhängerin, sondern als kühne,
freie Virtuosin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬
bischof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet
und verfolgt von dem gewaltigen Bischof von Meaux,
dem großen Bossuet; auch Frau von Maintenon und
Ludwig der Vierzehnte selbst nehmen an diesen Dingen
nahen Antheil, es entwickelt sich ein großer Kampf der
innerlichen Geistesgewalt mit den äußerlichen Mächten
der Kirche und des Staats. Die süße Liebesinnigkeit,
welche die edle Frau beseelt, ihre Herzenskraft, welche
jene in seltsamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬
den jetzt leichteres Verständniß finden, als damals, wo

ein dritter Autor gleichſtellen laͤßt, ſo gebuͤhrt doch der
Frau von Guyon unter den Andern unbeſtreitbar ein
erſter Platz; ſelbſt der treffliche Jung-Stilling muß ihr
an geiſtiger Eigenheit und einem ſeltſamen Reize weit
nachſtehn, obwohl er mehr aͤußeres Leben mit darſtellt.
Dieſe wunderbare Frau, in deren Daſein alles, was im
Menſchen leibt und lebt, ſich vergeiſtigte, deren Sinne,
nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was ſonſt
nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemuͤth durch
Ueberreizung ſeine zarteſten Anlagen bis zur Heldenſtaͤrke
trieb, iſt ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen
Enthuſiasmus. In dieſem Gebiete, wo wir leider ſo
oft Schwaͤchlichkeit und Albernheit ihr truͤbes Unweſen
treiben ſehn, erſcheint ſie mit Licht und Kraft, mit
Philoſophiſchem Scharfſinn und aͤchter Begeiſterung, nicht
als verdrehte, unſichre Kopfhaͤngerin, ſondern als kuͤhne,
freie Virtuoſin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬
biſchof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet
und verfolgt von dem gewaltigen Biſchof von Meaux,
dem großen Boſſuet; auch Frau von Maintenon und
Ludwig der Vierzehnte ſelbſt nehmen an dieſen Dingen
nahen Antheil, es entwickelt ſich ein großer Kampf der
innerlichen Geiſtesgewalt mit den aͤußerlichen Maͤchten
der Kirche und des Staats. Die ſuͤße Liebesinnigkeit,
welche die edle Frau beſeelt, ihre Herzenskraft, welche
jene in ſeltſamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬
den jetzt leichteres Verſtaͤndniß finden, als damals, wo

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[366/0380] ein dritter Autor gleichſtellen laͤßt, ſo gebuͤhrt doch der Frau von Guyon unter den Andern unbeſtreitbar ein erſter Platz; ſelbſt der treffliche Jung-Stilling muß ihr an geiſtiger Eigenheit und einem ſeltſamen Reize weit nachſtehn, obwohl er mehr aͤußeres Leben mit darſtellt. Dieſe wunderbare Frau, in deren Daſein alles, was im Menſchen leibt und lebt, ſich vergeiſtigte, deren Sinne, nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was ſonſt nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemuͤth durch Ueberreizung ſeine zarteſten Anlagen bis zur Heldenſtaͤrke trieb, iſt ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen Enthuſiasmus. In dieſem Gebiete, wo wir leider ſo oft Schwaͤchlichkeit und Albernheit ihr truͤbes Unweſen treiben ſehn, erſcheint ſie mit Licht und Kraft, mit Philoſophiſchem Scharfſinn und aͤchter Begeiſterung, nicht als verdrehte, unſichre Kopfhaͤngerin, ſondern als kuͤhne, freie Virtuoſin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬ biſchof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet und verfolgt von dem gewaltigen Biſchof von Meaux, dem großen Boſſuet; auch Frau von Maintenon und Ludwig der Vierzehnte ſelbſt nehmen an dieſen Dingen nahen Antheil, es entwickelt ſich ein großer Kampf der innerlichen Geiſtesgewalt mit den aͤußerlichen Maͤchten der Kirche und des Staats. Die ſuͤße Liebesinnigkeit, welche die edle Frau beſeelt, ihre Herzenskraft, welche jene in ſeltſamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬ den jetzt leichteres Verſtaͤndniß finden, als damals, wo

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/380>, abgerufen am 20.04.2024.