Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

die österreichischen Dörfer; ich tadle das; wenig Menschen
gehen hin und wieder: ein niedriger halber Wagen, mit einem
Bedienten, fährt den langsamsten Schritt; ein Herr fährt vom
Bock, drei Damen in Trauer sitzen drin, ich sehe in den Wa-
gen, und sehe Goethen. Der Schreck, die Freude machen mich
zum Wilden: ich schrei mit der größten Kraft und Eile: "Da
ist Goethe!" Goethe lacht, die Damen lachen: ich aber
packe die Vallentin, und wir rennen dem Wagen voraus, und
kehren um, und sehen ihn noch Einmal; er lächelte sehr wohl-
gefällig, beschaute uns sehr, und hielt sich Kräuter vor der
Nase, mit denen er das Gesicht fächelte, das Lächeln und das
Wohlwollen uns, aber besonders seiner Gesellschaft, die eigent-
lich kikerte, zu verbergen. Der Wagen hält in seiner Lang-
samkeit endlich ganz, der Herr vom Bock wendet sich, und
sagt: Das ist der Schwan! Nämlich, das Wirthshaus, von
welchem Goethe schreibt, dort immer eingekehrt zu sein. Also
auch Goethe ging heute in seine Jugend wallfahrten, und ich,
deine
Rahel, trifft ihn, macht ihm eine Art Scene; greift ein
in sein Leben! Dies ist mir ja lieber, als alles Vorstellen,
alles Kennenlernen. Als ich ihn das zweitemal sehen wollte,
sah ich ihn nicht, ich war so roth wie Scharlach, und auch
blaß, ich hatte den Muth nicht. Und als er vorbei war, am
Ende der Straße durch ein Fabrikgebäude und eine Pappel-
allee entlang aus dem Dorfe fuhr, zitterten mir Kniee und
Glieder mehr als eine halbe Stunde. Und laut, und wie ra-
send, dankte ich Gott in seine Abendsonne laut hinein. Auch
die Andern konnten ihr Glück nicht fassen! sie hätten es gar
nicht gewußt; Vallentin sagte, er sei der Büste ungeheuer

die öſterreichiſchen Dörfer; ich tadle das; wenig Menſchen
gehen hin und wieder: ein niedriger halber Wagen, mit einem
Bedienten, fährt den langſamſten Schritt; ein Herr fährt vom
Bock, drei Damen in Trauer ſitzen drin, ich ſehe in den Wa-
gen, und ſehe Goethen. Der Schreck, die Freude machen mich
zum Wilden: ich ſchrei mit der größten Kraft und Eile: „Da
iſt Goethe!“ Goethe lacht, die Damen lachen: ich aber
packe die Vallentin, und wir rennen dem Wagen voraus, und
kehren um, und ſehen ihn noch Einmal; er lächelte ſehr wohl-
gefällig, beſchaute uns ſehr, und hielt ſich Kräuter vor der
Naſe, mit denen er das Geſicht fächelte, das Lächeln und das
Wohlwollen uns, aber beſonders ſeiner Geſellſchaft, die eigent-
lich kikerte, zu verbergen. Der Wagen hält in ſeiner Lang-
ſamkeit endlich ganz, der Herr vom Bock wendet ſich, und
ſagt: Das iſt der Schwan! Nämlich, das Wirthshaus, von
welchem Goethe ſchreibt, dort immer eingekehrt zu ſein. Alſo
auch Goethe ging heute in ſeine Jugend wallfahrten, und ich,
deine
Rahel, trifft ihn, macht ihm eine Art Scene; greift ein
in ſein Leben! Dies iſt mir ja lieber, als alles Vorſtellen,
alles Kennenlernen. Als ich ihn das zweitemal ſehen wollte,
ſah ich ihn nicht, ich war ſo roth wie Scharlach, und auch
blaß, ich hatte den Muth nicht. Und als er vorbei war, am
Ende der Straße durch ein Fabrikgebäude und eine Pappel-
allee entlang aus dem Dorfe fuhr, zitterten mir Kniee und
Glieder mehr als eine halbe Stunde. Und laut, und wie ra-
ſend, dankte ich Gott in ſeine Abendſonne laut hinein. Auch
die Andern konnten ihr Glück nicht faſſen! ſie hätten es gar
nicht gewußt; Vallentin ſagte, er ſei der Büſte ungeheuer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0324" n="316"/>
die ö&#x017F;terreichi&#x017F;chen Dörfer; ich tadle das; wenig Men&#x017F;chen<lb/>
gehen hin und wieder: <hi rendition="#g">ein</hi> niedriger halber Wagen, mit einem<lb/>
Bedienten, fährt den lang&#x017F;am&#x017F;ten Schritt; ein Herr fährt vom<lb/>
Bock, drei Damen in Trauer &#x017F;itzen drin, ich &#x017F;ehe in den Wa-<lb/>
gen, und &#x017F;ehe Goethen. Der Schreck, die Freude machen mich<lb/>
zum Wilden: ich &#x017F;chrei mit der größten Kraft und Eile: &#x201E;Da<lb/><hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi> Goethe!&#x201C; Goethe lacht, die Damen lachen: ich aber<lb/>
packe die Vallentin, und wir rennen dem Wagen voraus, und<lb/>
kehren um, und &#x017F;ehen ihn noch Einmal; er lächelte &#x017F;ehr wohl-<lb/>
gefällig, be&#x017F;chaute uns &#x017F;ehr, und hielt &#x017F;ich Kräuter vor der<lb/>
Na&#x017F;e, mit denen er das Ge&#x017F;icht fächelte, das Lächeln und das<lb/>
Wohlwollen uns, aber be&#x017F;onders &#x017F;einer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, die eigent-<lb/>
lich kikerte, zu verbergen. Der Wagen hält in &#x017F;einer Lang-<lb/>
&#x017F;amkeit endlich ganz, der Herr vom Bock wendet &#x017F;ich, und<lb/>
&#x017F;agt: Das i&#x017F;t der Schwan! Nämlich, <hi rendition="#g">das</hi> Wirthshaus, von<lb/>
welchem Goethe &#x017F;chreibt, dort immer eingekehrt zu &#x017F;ein. Al&#x017F;o<lb/>
auch Goethe ging heute in &#x017F;eine Jugend wallfahrten, und <hi rendition="#g">ich,<lb/>
deine</hi> Rahel, trifft ihn, macht ihm eine Art Scene; greift ein<lb/>
in &#x017F;ein Leben! <hi rendition="#g">Dies</hi> i&#x017F;t mir ja lieber, als alles Vor&#x017F;tellen,<lb/>
alles Kennenlernen. Als ich ihn das zweitemal &#x017F;ehen wollte,<lb/>
&#x017F;ah ich ihn <hi rendition="#g">nicht</hi>, ich war &#x017F;o roth wie Scharlach, und auch<lb/>
blaß, ich hatte den Muth nicht. Und als er vorbei war, am<lb/>
Ende der Straße durch ein Fabrikgebäude und eine Pappel-<lb/>
allee entlang aus dem Dorfe fuhr, zitterten mir Kniee und<lb/>
Glieder mehr als eine halbe Stunde. Und laut, und wie ra-<lb/>
&#x017F;end, dankte ich Gott in &#x017F;eine Abend&#x017F;onne laut hinein. Auch<lb/>
die Andern konnten ihr Glück nicht fa&#x017F;&#x017F;en! &#x017F;ie hätten es gar<lb/>
nicht gewußt; Vallentin &#x017F;agte, er &#x017F;ei der Bü&#x017F;te ungeheuer<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0324] die öſterreichiſchen Dörfer; ich tadle das; wenig Menſchen gehen hin und wieder: ein niedriger halber Wagen, mit einem Bedienten, fährt den langſamſten Schritt; ein Herr fährt vom Bock, drei Damen in Trauer ſitzen drin, ich ſehe in den Wa- gen, und ſehe Goethen. Der Schreck, die Freude machen mich zum Wilden: ich ſchrei mit der größten Kraft und Eile: „Da iſt Goethe!“ Goethe lacht, die Damen lachen: ich aber packe die Vallentin, und wir rennen dem Wagen voraus, und kehren um, und ſehen ihn noch Einmal; er lächelte ſehr wohl- gefällig, beſchaute uns ſehr, und hielt ſich Kräuter vor der Naſe, mit denen er das Geſicht fächelte, das Lächeln und das Wohlwollen uns, aber beſonders ſeiner Geſellſchaft, die eigent- lich kikerte, zu verbergen. Der Wagen hält in ſeiner Lang- ſamkeit endlich ganz, der Herr vom Bock wendet ſich, und ſagt: Das iſt der Schwan! Nämlich, das Wirthshaus, von welchem Goethe ſchreibt, dort immer eingekehrt zu ſein. Alſo auch Goethe ging heute in ſeine Jugend wallfahrten, und ich, deine Rahel, trifft ihn, macht ihm eine Art Scene; greift ein in ſein Leben! Dies iſt mir ja lieber, als alles Vorſtellen, alles Kennenlernen. Als ich ihn das zweitemal ſehen wollte, ſah ich ihn nicht, ich war ſo roth wie Scharlach, und auch blaß, ich hatte den Muth nicht. Und als er vorbei war, am Ende der Straße durch ein Fabrikgebäude und eine Pappel- allee entlang aus dem Dorfe fuhr, zitterten mir Kniee und Glieder mehr als eine halbe Stunde. Und laut, und wie ra- ſend, dankte ich Gott in ſeine Abendſonne laut hinein. Auch die Andern konnten ihr Glück nicht faſſen! ſie hätten es gar nicht gewußt; Vallentin ſagte, er ſei der Büſte ungeheuer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/324
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/324>, abgerufen am 29.03.2024.