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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834.

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mehr und mehr jenes Meer versiegt, und anderm Unbekann-
ten weichen muß, und längst, längst weicht; nur die Sonne,
die Nahrung und Geist ist, steht noch oben, und behauptet
den alten Gang noch.



An Varnhagen, in Paris.


Diesen Augenblick, mein August, erhalt' ich deinen Brief
vom 30. mit Troxlers drin, den ich noch nicht gelesen habe:
mit Thränen in den Augen setz' ich mich hin, dir für deine
Liebe zu antworten. Ich war schon auf meinen Knieen --
man sollte so etwas nicht sagen! -- Gott zu bitten, obgleich
ich in allen seinen Willen ergebner bin, als in meinen, daß
er mich zu dir führe. -- Du hast es zu sehr nöthig, ich leide
zu sehr, wenn du entfernt bist. -- Ich bin über dein, also
unser künftiges Schicksal sehr ruhig; hat es sich doch unter
ungünstigern Umständen gefunden. Der Kanzler wogt zu sehr;
er wogt auf der großen Stelle, die vielen Wellen machen ihn
schwanken, wie Alle, die sich auf so reichem Meere befinden.
Ich glaube dir auch, daß er viel kämpfte: aber es ist wahrlich
ein Kampf, und ein Einzelner kann ihn mit den größten Ein-
sichten nur von ungefähr entscheiden. Über den Tod denk' ich
wie du; wir wollen zusammenbleiben. So eben erhielt ich
wieder von der Arnstein und der Ephraim die liebendsten
Briefe, ich werde sie dir künftig schicken, weil ich sie erst Jul-
chen mittheilen muß. Mach dir kein Gewissen, treuster, liebe-

mehr und mehr jenes Meer verſiegt, und anderm Unbekann-
ten weichen muß, und längſt, längſt weicht; nur die Sonne,
die Nahrung und Geiſt iſt, ſteht noch oben, und behauptet
den alten Gang noch.



An Varnhagen, in Paris.


Dieſen Augenblick, mein Auguſt, erhalt’ ich deinen Brief
vom 30. mit Troxlers drin, den ich noch nicht geleſen habe:
mit Thränen in den Augen ſetz’ ich mich hin, dir für deine
Liebe zu antworten. Ich war ſchon auf meinen Knieen —
man ſollte ſo etwas nicht ſagen! — Gott zu bitten, obgleich
ich in allen ſeinen Willen ergebner bin, als in meinen, daß
er mich zu dir führe. — Du haſt es zu ſehr nöthig, ich leide
zu ſehr, wenn du entfernt biſt. — Ich bin über dein, alſo
unſer künftiges Schickſal ſehr ruhig; hat es ſich doch unter
ungünſtigern Umſtänden gefunden. Der Kanzler wogt zu ſehr;
er wogt auf der großen Stelle, die vielen Wellen machen ihn
ſchwanken, wie Alle, die ſich auf ſo reichem Meere befinden.
Ich glaube dir auch, daß er viel kämpfte: aber es iſt wahrlich
ein Kampf, und ein Einzelner kann ihn mit den größten Ein-
ſichten nur von ungefähr entſcheiden. Über den Tod denk’ ich
wie du; wir wollen zuſammenbleiben. So eben erhielt ich
wieder von der Arnſtein und der Ephraim die liebendſten
Briefe, ich werde ſie dir künftig ſchicken, weil ich ſie erſt Jul-
chen mittheilen muß. Mach dir kein Gewiſſen, treuſter, liebe-

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[325/0333] mehr und mehr jenes Meer verſiegt, und anderm Unbekann- ten weichen muß, und längſt, längſt weicht; nur die Sonne, die Nahrung und Geiſt iſt, ſteht noch oben, und behauptet den alten Gang noch. An Varnhagen, in Paris. Frankfurt a. M. den 5. September 1815. Dienstag Mittag 1 Uhr. Dieſen Augenblick, mein Auguſt, erhalt’ ich deinen Brief vom 30. mit Troxlers drin, den ich noch nicht geleſen habe: mit Thränen in den Augen ſetz’ ich mich hin, dir für deine Liebe zu antworten. Ich war ſchon auf meinen Knieen — man ſollte ſo etwas nicht ſagen! — Gott zu bitten, obgleich ich in allen ſeinen Willen ergebner bin, als in meinen, daß er mich zu dir führe. — Du haſt es zu ſehr nöthig, ich leide zu ſehr, wenn du entfernt biſt. — Ich bin über dein, alſo unſer künftiges Schickſal ſehr ruhig; hat es ſich doch unter ungünſtigern Umſtänden gefunden. Der Kanzler wogt zu ſehr; er wogt auf der großen Stelle, die vielen Wellen machen ihn ſchwanken, wie Alle, die ſich auf ſo reichem Meere befinden. Ich glaube dir auch, daß er viel kämpfte: aber es iſt wahrlich ein Kampf, und ein Einzelner kann ihn mit den größten Ein- ſichten nur von ungefähr entſcheiden. Über den Tod denk’ ich wie du; wir wollen zuſammenbleiben. So eben erhielt ich wieder von der Arnſtein und der Ephraim die liebendſten Briefe, ich werde ſie dir künftig ſchicken, weil ich ſie erſt Jul- chen mittheilen muß. Mach dir kein Gewiſſen, treuſter, liebe-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/333>, abgerufen am 24.04.2024.