Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

traurigsten widrigsten Betrachtung in der Welt. Mir eine
häufige Erscheinung, und höchst tragisch, vielfältig tragisch.


-- Um 2 Uhr in die Kirche. Schleiermacher die magerste,
nüchternste, gezwungenste Predigt: er selbst ergeben, sie auf
Bibeltexte a la fortune du pot zu machen. Vorher Gesinge.
Der Klingelbeutel. Hinter mir ein Mensch umgefallen. Ich
erschrocken: krank davon den ganzen Tag. -- Machiavelli's
florentinische Geschichten erquicken mich etwas, weil sie mich
stärken: es sind lauter faits, wie er's erzählt. Das hab' ich
jetzt nöthig. -- Viele beurtheilen die G., die gar nicht fähig
sind, zu wissen, daß es Personen giebt mit Gedanken wie sie,
und im Zusammenhang mit ihren Gedanken wie sie. Sie sind
stolz, daß sie nie närrisch sind. Das glaub' ich wohl! dazu
gehören auch Mittel. --


Zu Hause bis Abends halb 9. Dann zu M. Dort Lud-
wig Liman, und Andre. Das Gespräch über Thierseelen.
Ohme sich sehr übernommen: in der Verwechslung unserer
ethischen, und aller übrigen Anlagen. Weil ihm noch nie
eingefallen, daß diese, wenn auch mit dem höchsten Bezug
ausgestattete Fakultät doch kein Zweck an sich ist, nur eine
Beziehung darstellt, und wie alle andere Stufen eine Anstalt
bezeichnet; einfach scheint, und komplizirt ist, wie alle unsere
Fähigkeiten; die insgesammt wieder nur zu einer werden
können, und wie ich glaube, werden werden. Es ist sonder-

traurigſten widrigſten Betrachtung in der Welt. Mir eine
häufige Erſcheinung, und höchſt tragiſch, vielfältig tragiſch.


— Um 2 Uhr in die Kirche. Schleiermacher die magerſte,
nüchternſte, gezwungenſte Predigt: er ſelbſt ergeben, ſie auf
Bibeltexte à la fortune du pot zu machen. Vorher Geſinge.
Der Klingelbeutel. Hinter mir ein Menſch umgefallen. Ich
erſchrocken: krank davon den ganzen Tag. — Machiavelli’s
florentiniſche Geſchichten erquicken mich etwas, weil ſie mich
ſtärken: es ſind lauter faits, wie er’s erzählt. Das hab’ ich
jetzt nöthig. — Viele beurtheilen die G., die gar nicht fähig
ſind, zu wiſſen, daß es Perſonen giebt mit Gedanken wie ſie,
und im Zuſammenhang mit ihren Gedanken wie ſie. Sie ſind
ſtolz, daß ſie nie närriſch ſind. Das glaub’ ich wohl! dazu
gehören auch Mittel. —


Zu Hauſe bis Abends halb 9. Dann zu M. Dort Lud-
wig Liman, und Andre. Das Geſpräch über Thierſeelen.
Ohme ſich ſehr übernommen: in der Verwechslung unſerer
ethiſchen, und aller übrigen Anlagen. Weil ihm noch nie
eingefallen, daß dieſe, wenn auch mit dem höchſten Bezug
ausgeſtattete Fakultät doch kein Zweck an ſich iſt, nur eine
Beziehung darſtellt, und wie alle andere Stufen eine Anſtalt
bezeichnet; einfach ſcheint, und komplizirt iſt, wie alle unſere
Fähigkeiten; die insgeſammt wieder nur zu einer werden
können, und wie ich glaube, werden werden. Es iſt ſonder-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0010" n="2"/>
traurig&#x017F;ten widrig&#x017F;ten Betrachtung in der Welt. Mir eine<lb/>
häufige Er&#x017F;cheinung, und höch&#x017F;t tragi&#x017F;ch, vielfältig tragi&#x017F;ch.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Sonntag, den 2. Januar 1820.</hi> </dateline><lb/>
            <p>&#x2014; Um 2 Uhr in die Kirche. Schleiermacher die mager&#x017F;te,<lb/>
nüchtern&#x017F;te, gezwungen&#x017F;te Predigt: er &#x017F;elb&#x017F;t ergeben, &#x017F;ie auf<lb/>
Bibeltexte <hi rendition="#aq">à la fortune du pot</hi> zu machen. Vorher Ge&#x017F;inge.<lb/>
Der Klingelbeutel. Hinter mir ein Men&#x017F;ch umgefallen. Ich<lb/>
er&#x017F;chrocken: krank davon den ganzen Tag. &#x2014; Machiavelli&#x2019;s<lb/>
florentini&#x017F;che Ge&#x017F;chichten erquicken mich etwas, weil &#x017F;ie mich<lb/>
&#x017F;tärken: es &#x017F;ind lauter <hi rendition="#aq">faits,</hi> wie er&#x2019;s erzählt. Das hab&#x2019; ich<lb/>
jetzt nöthig. &#x2014; Viele beurtheilen die G., die gar nicht fähig<lb/>
&#x017F;ind, zu wi&#x017F;&#x017F;en, daß es Per&#x017F;onen giebt mit Gedanken wie &#x017F;ie,<lb/>
und im Zu&#x017F;ammenhang mit ihren Gedanken wie &#x017F;ie. Sie &#x017F;ind<lb/>
&#x017F;tolz, daß &#x017F;ie nie närri&#x017F;ch &#x017F;ind. Das glaub&#x2019; ich wohl! dazu<lb/>
gehören auch Mittel. &#x2014;</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Montag, den 3. Januar 1820.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Zu Hau&#x017F;e bis Abends halb 9. Dann zu M. Dort Lud-<lb/>
wig Liman, und Andre. Das Ge&#x017F;präch über Thier&#x017F;eelen.<lb/>
Ohme &#x017F;ich &#x017F;ehr übernommen: in der Verwechslung un&#x017F;erer<lb/>
ethi&#x017F;chen, und aller übrigen Anlagen. Weil ihm noch nie<lb/>
eingefallen, daß die&#x017F;e, wenn auch mit dem höch&#x017F;ten Bezug<lb/>
ausge&#x017F;tattete Fakultät doch kein Zweck an &#x017F;ich i&#x017F;t, nur eine<lb/>
Beziehung dar&#x017F;tellt, und wie alle andere Stufen eine An&#x017F;talt<lb/>
bezeichnet; einfach &#x017F;cheint, und komplizirt i&#x017F;t, wie alle un&#x017F;ere<lb/>
Fähigkeiten; die insge&#x017F;ammt wieder nur zu einer <hi rendition="#g">werden</hi><lb/>
können, und wie ich glaube, werden <hi rendition="#g">werden</hi>. Es i&#x017F;t &#x017F;onder-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0010] traurigſten widrigſten Betrachtung in der Welt. Mir eine häufige Erſcheinung, und höchſt tragiſch, vielfältig tragiſch. Sonntag, den 2. Januar 1820. — Um 2 Uhr in die Kirche. Schleiermacher die magerſte, nüchternſte, gezwungenſte Predigt: er ſelbſt ergeben, ſie auf Bibeltexte à la fortune du pot zu machen. Vorher Geſinge. Der Klingelbeutel. Hinter mir ein Menſch umgefallen. Ich erſchrocken: krank davon den ganzen Tag. — Machiavelli’s florentiniſche Geſchichten erquicken mich etwas, weil ſie mich ſtärken: es ſind lauter faits, wie er’s erzählt. Das hab’ ich jetzt nöthig. — Viele beurtheilen die G., die gar nicht fähig ſind, zu wiſſen, daß es Perſonen giebt mit Gedanken wie ſie, und im Zuſammenhang mit ihren Gedanken wie ſie. Sie ſind ſtolz, daß ſie nie närriſch ſind. Das glaub’ ich wohl! dazu gehören auch Mittel. — Montag, den 3. Januar 1820. Zu Hauſe bis Abends halb 9. Dann zu M. Dort Lud- wig Liman, und Andre. Das Geſpräch über Thierſeelen. Ohme ſich ſehr übernommen: in der Verwechslung unſerer ethiſchen, und aller übrigen Anlagen. Weil ihm noch nie eingefallen, daß dieſe, wenn auch mit dem höchſten Bezug ausgeſtattete Fakultät doch kein Zweck an ſich iſt, nur eine Beziehung darſtellt, und wie alle andere Stufen eine Anſtalt bezeichnet; einfach ſcheint, und komplizirt iſt, wie alle unſere Fähigkeiten; die insgeſammt wieder nur zu einer werden können, und wie ich glaube, werden werden. Es iſt ſonder-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/10
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/10>, abgerufen am 29.03.2024.