Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Untergang -- doch geschaut wird; von denen der Blick aber
sich wenden kann; in Kunst und Göttersphäre. --



An Rose, im Haag.

Eben die Lampe angezündet. Nasses, schneriges Kothwetter.
Bücklings-Jungen schreien. Sehr windig.

Vor Tische, 3 Uhr, schickte mir Moritz deinen Brief: es
war höchste Zeit: denn grad heute fing ich an zu denken, ob
du wohl krank seist, und dir wohl deßhalb Moritz Brief vor-
enthalten wird! -- Gott gedankt! du bist wohl: und auch ge-
faßt. Das bin ich auch. Aber mein Herz-Schmerz, und mein
Gram, und das Wiederholen aller Scenen, Mienen, Leiden,
Worte, bleibt dasselbe. Mein einziger Trost ist, daß ich ihm
alles, ohne Ausnahme alles, that und opferte, was nur in
meinen Kräften stand: das Opfer bestand, in dem Rest meiner
wenigen Gesundheit: meine Satisfaktion, nicht in einer
Pflichterfüllung
, sondern in der sichtbaren Sicherheit, ihn
wirklich soulagirt, und ihm beigestanden zu haben. Mit Pflege
aller Art, und Trost; und muthigem sowohl, als zärtlich-
stem Betragen. Er, der nie demonstrativ war, und immer
weniger es wurde; und immer wortkarger: nannte mich oft:
"treue Schwester; treue Seele!" das Äußerste! Ewig werde
ich von seinen Leiden beleidigt bleiben; jedoch hatte er einen
edlen Tod am Ende: er war nur Einen Tag mit Ohnmachten
befallen: sprach mich noch um halb 4, war um halb 9 ent-
schlafen. Alles, den ganzen Rest, mündlich! Physisch habe

Untergang — doch geſchaut wird; von denen der Blick aber
ſich wenden kann; in Kunſt und Götterſphäre. —



An Roſe, im Haag.

Eben die Lampe angezündet. Naſſes, ſchneriges Kothwetter.
Bücklings-Jungen ſchreien. Sehr windig.

Vor Tiſche, 3 Uhr, ſchickte mir Moritz deinen Brief: es
war höchſte Zeit: denn grad heute fing ich an zu denken, ob
du wohl krank ſeiſt, und dir wohl deßhalb Moritz Brief vor-
enthalten wird! — Gott gedankt! du biſt wohl: und auch ge-
faßt. Das bin ich auch. Aber mein Herz-Schmerz, und mein
Gram, und das Wiederholen aller Scenen, Mienen, Leiden,
Worte, bleibt daſſelbe. Mein einziger Troſt iſt, daß ich ihm
alles, ohne Ausnahme alles, that und opferte, was nur in
meinen Kräften ſtand: das Opfer beſtand, in dem Reſt meiner
wenigen Geſundheit: meine Satisfaktion, nicht in einer
Pflichterfüllung
, ſondern in der ſichtbaren Sicherheit, ihn
wirklich ſoulagirt, und ihm beigeſtanden zu haben. Mit Pflege
aller Art, und Troſt; und muthigem ſowohl, als zärtlich-
ſtem Betragen. Er, der nie demonſtrativ war, und immer
weniger es wurde; und immer wortkarger: nannte mich oft:
„treue Schweſter; treue Seele!“ das Äußerſte! Ewig werde
ich von ſeinen Leiden beleidigt bleiben; jedoch hatte er einen
edlen Tod am Ende: er war nur Einen Tag mit Ohnmachten
befallen: ſprach mich noch um halb 4, war um halb 9 ent-
ſchlafen. Alles, den ganzen Reſt, mündlich! Phyſiſch habe

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0269" n="261"/>
Untergang &#x2014; doch ge&#x017F;chaut wird; von denen der Blick aber<lb/>
&#x017F;ich wenden kann; in Kun&#x017F;t und Götter&#x017F;phäre. &#x2014;</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An Ro&#x017F;e, im Haag.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, Freitag den 12. Januar 1827. 6 Uhr Abends.</hi> </dateline><lb/>
            <p> <hi rendition="#et">Eben die Lampe angezündet. Na&#x017F;&#x017F;es, &#x017F;chneriges Kothwetter.<lb/>
Bücklings-Jungen &#x017F;chreien. Sehr windig.</hi> </p><lb/>
            <p>Vor Ti&#x017F;che, 3 Uhr, &#x017F;chickte mir Moritz deinen Brief: es<lb/>
war höch&#x017F;te Zeit: denn grad heute fing ich an zu denken, ob<lb/>
du wohl krank &#x017F;ei&#x017F;t, und dir wohl deßhalb Moritz Brief vor-<lb/>
enthalten wird! &#x2014; Gott gedankt! du bi&#x017F;t wohl: und auch ge-<lb/>
faßt. Das bin ich auch. Aber mein Herz-Schmerz, und mein<lb/>
Gram, und das Wiederholen aller Scenen, Mienen, Leiden,<lb/>
Worte, bleibt da&#x017F;&#x017F;elbe. Mein einziger Tro&#x017F;t i&#x017F;t, daß ich ihm<lb/><hi rendition="#g">alles</hi>, ohne Ausnahme alles, that und opferte, was nur in<lb/>
meinen Kräften &#x017F;tand: das Opfer be&#x017F;tand, in dem Re&#x017F;t meiner<lb/>
wenigen Ge&#x017F;undheit: meine Satisfaktion, <hi rendition="#g">nicht in einer<lb/>
Pflichterfüllung</hi>, &#x017F;ondern in der &#x017F;ichtbaren Sicherheit, ihn<lb/>
wirklich &#x017F;oulagirt, und ihm beige&#x017F;tanden zu haben. Mit Pflege<lb/>
aller Art, und <hi rendition="#g">Tro&#x017F;t</hi>; und <hi rendition="#g">muthigem</hi> &#x017F;owohl, als zärtlich-<lb/>
&#x017F;tem Betragen. Er, der nie demon&#x017F;trativ war, und immer<lb/>
weniger es wurde; und immer wortkarger: nannte mich oft:<lb/>
&#x201E;treue Schwe&#x017F;ter; treue Seele!&#x201C; <hi rendition="#g">das Äußer&#x017F;te</hi>! Ewig werde<lb/>
ich von &#x017F;einen Leiden beleidigt bleiben; jedoch hatte er einen<lb/>
edlen Tod am Ende: er war nur Einen Tag mit Ohnmachten<lb/>
befallen: &#x017F;prach mich noch um halb 4, war um halb 9 ent-<lb/>
&#x017F;chlafen. Alles, den ganzen Re&#x017F;t, mündlich! Phy&#x017F;i&#x017F;ch habe<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0269] Untergang — doch geſchaut wird; von denen der Blick aber ſich wenden kann; in Kunſt und Götterſphäre. — An Roſe, im Haag. Berlin, Freitag den 12. Januar 1827. 6 Uhr Abends. Eben die Lampe angezündet. Naſſes, ſchneriges Kothwetter. Bücklings-Jungen ſchreien. Sehr windig. Vor Tiſche, 3 Uhr, ſchickte mir Moritz deinen Brief: es war höchſte Zeit: denn grad heute fing ich an zu denken, ob du wohl krank ſeiſt, und dir wohl deßhalb Moritz Brief vor- enthalten wird! — Gott gedankt! du biſt wohl: und auch ge- faßt. Das bin ich auch. Aber mein Herz-Schmerz, und mein Gram, und das Wiederholen aller Scenen, Mienen, Leiden, Worte, bleibt daſſelbe. Mein einziger Troſt iſt, daß ich ihm alles, ohne Ausnahme alles, that und opferte, was nur in meinen Kräften ſtand: das Opfer beſtand, in dem Reſt meiner wenigen Geſundheit: meine Satisfaktion, nicht in einer Pflichterfüllung, ſondern in der ſichtbaren Sicherheit, ihn wirklich ſoulagirt, und ihm beigeſtanden zu haben. Mit Pflege aller Art, und Troſt; und muthigem ſowohl, als zärtlich- ſtem Betragen. Er, der nie demonſtrativ war, und immer weniger es wurde; und immer wortkarger: nannte mich oft: „treue Schweſter; treue Seele!“ das Äußerſte! Ewig werde ich von ſeinen Leiden beleidigt bleiben; jedoch hatte er einen edlen Tod am Ende: er war nur Einen Tag mit Ohnmachten befallen: ſprach mich noch um halb 4, war um halb 9 ent- ſchlafen. Alles, den ganzen Reſt, mündlich! Phyſiſch habe

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/269
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/269>, abgerufen am 28.03.2024.