Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An die Fürstin von Pückler-Muskau.


Wie Recht haben Ihro Durchlaucht, den Zufall "den Ge-
bieter menschlicher Schicksale" zu nennen! Wenn wir nämlich
das um uns bewegte All so nennen, auf dessen Strom wir
getrieben, von dessen Wellen wir verschlungen, und gereckt,
die nur durch seltene, große Geschicklichkeit, oder einen solchen
Karakter, durchschifft, und bezwungen werden. Mich bezwin-
gen sie ganz. Jeden Tag mehr: meine Einsicht steigt; mein
Karakter sinkt: die Kräfte, die Detail-Muth beleben, aus de-
nen er besteht. Und so ist es möglich geworden, so viele Tage
Ihren mich überraschenden, lieben, geehrten, mich beschämen-
den Brief nicht zu beantworten. Ich hätte Ihnen schon
längst schreiben sollen, verehrte Frau Fürstin! wenn Recht vor
Unrecht ginge: das heißt, wenn wir unserm Innern folgten,
anstatt auf jenem Meere uns treiben zu lassen. Ich mag
Ihnen nicht Welle vor Welle nennen; es waren auch nicht
immer sonnenbeschienene reizende, die mich aus meinem Meere
führten! Meine drei Domestiken waren einer nach dem an-
dern krank; fast zugleich; Gäste, und Fremde häuften sich zu
der Zeit: mein Kind, Elischen, hatte den Keichhusten, und war
öfters in Pension bei mir. Musiken -- obligees -- bei mir;
drei Stück, wo Fürst Radziwill Dilettantinnen hören mochte,
und auch sie mit Kompositionen und Gesang belohnen wollte.
Zwei neue Stücke von meinem Bruder Ludwig, der viel dar-
auf giebt, wenn sie mir gefallen, oder nicht: viele Damen,

An die Fürſtin von Pückler-Muskau.


Wie Recht haben Ihro Durchlaucht, den Zufall „den Ge-
bieter menſchlicher Schickſale“ zu nennen! Wenn wir nämlich
das um uns bewegte All ſo nennen, auf deſſen Strom wir
getrieben, von deſſen Wellen wir verſchlungen, und gereckt,
die nur durch ſeltene, große Geſchicklichkeit, oder einen ſolchen
Karakter, durchſchifft, und bezwungen werden. Mich bezwin-
gen ſie ganz. Jeden Tag mehr: meine Einſicht ſteigt; mein
Karakter ſinkt: die Kräfte, die Detail-Muth beleben, aus de-
nen er beſteht. Und ſo iſt es möglich geworden, ſo viele Tage
Ihren mich überraſchenden, lieben, geehrten, mich beſchämen-
den Brief nicht zu beantworten. Ich hätte Ihnen ſchon
längſt ſchreiben ſollen, verehrte Frau Fürſtin! wenn Recht vor
Unrecht ginge: das heißt, wenn wir unſerm Innern folgten,
anſtatt auf jenem Meere uns treiben zu laſſen. Ich mag
Ihnen nicht Welle vor Welle nennen; es waren auch nicht
immer ſonnenbeſchienene reizende, die mich aus meinem Meere
führten! Meine drei Domeſtiken waren einer nach dem an-
dern krank; faſt zugleich; Gäſte, und Fremde häuften ſich zu
der Zeit: mein Kind, Elischen, hatte den Keichhuſten, und war
öfters in Penſion bei mir. Muſiken — obligées — bei mir;
drei Stück, wo Fürſt Radziwill Dilettantinnen hören mochte,
und auch ſie mit Kompoſitionen und Geſang belohnen wollte.
Zwei neue Stücke von meinem Bruder Ludwig, der viel dar-
auf giebt, wenn ſie mir gefallen, oder nicht: viele Damen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0356" n="348"/>
        <div n="2">
          <head>An die Für&#x017F;tin von Pückler-Muskau.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 6. December 1828.</hi> </dateline><lb/>
          <p>Wie Recht haben Ihro Durchlaucht, den Zufall &#x201E;den Ge-<lb/>
bieter men&#x017F;chlicher Schick&#x017F;ale&#x201C; zu nennen! Wenn wir nämlich<lb/>
das um uns bewegte All &#x017F;o nennen, auf de&#x017F;&#x017F;en Strom wir<lb/>
getrieben, von de&#x017F;&#x017F;en Wellen wir ver&#x017F;chlungen, und gereckt,<lb/>
die nur durch &#x017F;eltene, große Ge&#x017F;chicklichkeit, oder einen &#x017F;olchen<lb/>
Karakter, durch&#x017F;chifft, und bezwungen werden. Mich bezwin-<lb/>
gen &#x017F;ie ganz. Jeden Tag mehr: meine Ein&#x017F;icht &#x017F;teigt; mein<lb/>
Karakter &#x017F;inkt: die Kräfte, die Detail-Muth beleben, aus de-<lb/>
nen er be&#x017F;teht. Und &#x017F;o i&#x017F;t es möglich geworden, &#x017F;o viele Tage<lb/>
Ihren mich überra&#x017F;chenden, lieben, geehrten, mich be&#x017F;chämen-<lb/>
den Brief nicht zu beantworten. Ich hätte <hi rendition="#g">Ihnen</hi> &#x017F;chon<lb/>
läng&#x017F;t &#x017F;chreiben &#x017F;ollen, verehrte Frau Für&#x017F;tin! wenn Recht vor<lb/>
Unrecht ginge: das heißt, wenn wir un&#x017F;erm Innern folgten,<lb/>
an&#x017F;tatt auf jenem Meere uns treiben zu la&#x017F;&#x017F;en. Ich mag<lb/>
Ihnen nicht Welle vor Welle nennen; es waren auch nicht<lb/>
immer &#x017F;onnenbe&#x017F;chienene reizende, die mich aus meinem Meere<lb/>
führten! Meine drei Dome&#x017F;tiken waren einer nach dem an-<lb/>
dern krank; fa&#x017F;t zugleich; Gä&#x017F;te, und Fremde häuften &#x017F;ich zu<lb/>
der Zeit: mein Kind, Elischen, hatte den Keichhu&#x017F;ten, und war<lb/>
öfters in Pen&#x017F;ion bei mir. Mu&#x017F;iken &#x2014; <hi rendition="#aq">obligées</hi> &#x2014; bei mir;<lb/>
drei Stück, wo Für&#x017F;t Radziwill Dilettantinnen hören mochte,<lb/>
und auch &#x017F;ie mit Kompo&#x017F;itionen und Ge&#x017F;ang belohnen wollte.<lb/>
Zwei neue Stücke von meinem Bruder Ludwig, der viel dar-<lb/>
auf giebt, wenn &#x017F;ie mir gefallen, oder nicht: viele Damen,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[348/0356] An die Fürſtin von Pückler-Muskau. Berlin, den 6. December 1828. Wie Recht haben Ihro Durchlaucht, den Zufall „den Ge- bieter menſchlicher Schickſale“ zu nennen! Wenn wir nämlich das um uns bewegte All ſo nennen, auf deſſen Strom wir getrieben, von deſſen Wellen wir verſchlungen, und gereckt, die nur durch ſeltene, große Geſchicklichkeit, oder einen ſolchen Karakter, durchſchifft, und bezwungen werden. Mich bezwin- gen ſie ganz. Jeden Tag mehr: meine Einſicht ſteigt; mein Karakter ſinkt: die Kräfte, die Detail-Muth beleben, aus de- nen er beſteht. Und ſo iſt es möglich geworden, ſo viele Tage Ihren mich überraſchenden, lieben, geehrten, mich beſchämen- den Brief nicht zu beantworten. Ich hätte Ihnen ſchon längſt ſchreiben ſollen, verehrte Frau Fürſtin! wenn Recht vor Unrecht ginge: das heißt, wenn wir unſerm Innern folgten, anſtatt auf jenem Meere uns treiben zu laſſen. Ich mag Ihnen nicht Welle vor Welle nennen; es waren auch nicht immer ſonnenbeſchienene reizende, die mich aus meinem Meere führten! Meine drei Domeſtiken waren einer nach dem an- dern krank; faſt zugleich; Gäſte, und Fremde häuften ſich zu der Zeit: mein Kind, Elischen, hatte den Keichhuſten, und war öfters in Penſion bei mir. Muſiken — obligées — bei mir; drei Stück, wo Fürſt Radziwill Dilettantinnen hören mochte, und auch ſie mit Kompoſitionen und Geſang belohnen wollte. Zwei neue Stücke von meinem Bruder Ludwig, der viel dar- auf giebt, wenn ſie mir gefallen, oder nicht: viele Damen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/356
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/356>, abgerufen am 25.04.2024.