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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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Allmächtiger Gott sei uns gnädig! Lehr' uns, wie wir
zu dir stehen!



An Adam von Müller, in Leipzig.

-- Angelus tiefste, erhabenste, schönste, kühnste Sprüche
sind und bleiben nur unschuldige Fragen, und demüthiges
Verzichten. Die ersten bis zur kühnsten Keckheit eines geist-
vollen Kindes. Ich muß hier noch sagen: es findet sich schon
in Kindern diese Sitte, wie ich es nicht anders zu nennen
weiß: die ganze Anlage, der ganze Keim zur Moralität.
Wie sollt' ihnen auch sonst verständlich werden, was sich
darauf bezieht? Aber verschieden sind die Kinder; grad nur
darin. --

Und ich möchte sagen, was ist am Ende der Mensch an-
ders, als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum
ehrlich kühnen Fragen, und zum demüthigen Warten auf
Antwort, ist er hier. Nicht kühn fragen, und sich schmeichel-
hafte Antworten geben, ist der tiefe Grund zu allem Irrthum:
und ist man in diesem auch ehrlich, und irrt nur, so ist es
doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden
können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Ein-
richtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge unter-
einander, und der Gedanken zu den Dingen, wird uns doch
zum schwereren, demüthigern Werke mit fortreißen. Auf solche
Weise, glaub' ich, sind wir zum ganzen hiesigen Dasein ge-

Allmächtiger Gott ſei uns gnädig! Lehr’ uns, wie wir
zu dir ſtehen!



An Adam von Müller, in Leipzig.

— Angelus tiefſte, erhabenſte, ſchönſte, kühnſte Sprüche
ſind und bleiben nur unſchuldige Fragen, und demüthiges
Verzichten. Die erſten bis zur kühnſten Keckheit eines geiſt-
vollen Kindes. Ich muß hier noch ſagen: es findet ſich ſchon
in Kindern dieſe Sitte, wie ich es nicht anders zu nennen
weiß: die ganze Anlage, der ganze Keim zur Moralität.
Wie ſollt’ ihnen auch ſonſt verſtändlich werden, was ſich
darauf bezieht? Aber verſchieden ſind die Kinder; grad nur
darin. —

Und ich möchte ſagen, was iſt am Ende der Menſch an-
ders, als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum
ehrlich kühnen Fragen, und zum demüthigen Warten auf
Antwort, iſt er hier. Nicht kühn fragen, und ſich ſchmeichel-
hafte Antworten geben, iſt der tiefe Grund zu allem Irrthum:
und iſt man in dieſem auch ehrlich, und irrt nur, ſo iſt es
doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden
können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Ein-
richtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge unter-
einander, und der Gedanken zu den Dingen, wird uns doch
zum ſchwereren, demüthigern Werke mit fortreißen. Auf ſolche
Weiſe, glaub’ ich, ſind wir zum ganzen hieſigen Daſein ge-

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[30/0038] Allmächtiger Gott ſei uns gnädig! Lehr’ uns, wie wir zu dir ſtehen! An Adam von Müller, in Leipzig. Den 15. December 1820. — Angelus tiefſte, erhabenſte, ſchönſte, kühnſte Sprüche ſind und bleiben nur unſchuldige Fragen, und demüthiges Verzichten. Die erſten bis zur kühnſten Keckheit eines geiſt- vollen Kindes. Ich muß hier noch ſagen: es findet ſich ſchon in Kindern dieſe Sitte, wie ich es nicht anders zu nennen weiß: die ganze Anlage, der ganze Keim zur Moralität. Wie ſollt’ ihnen auch ſonſt verſtändlich werden, was ſich darauf bezieht? Aber verſchieden ſind die Kinder; grad nur darin. — Und ich möchte ſagen, was iſt am Ende der Menſch an- ders, als eine Frage! Zum Fragen, nur zum Fragen, zum ehrlich kühnen Fragen, und zum demüthigen Warten auf Antwort, iſt er hier. Nicht kühn fragen, und ſich ſchmeichel- hafte Antworten geben, iſt der tiefe Grund zu allem Irrthum: und iſt man in dieſem auch ehrlich, und irrt nur, ſo iſt es doch Verzärtelung und Mangel an Klarheit; und bei beiden können wir nicht immer verweilen: Die große allgütige Ein- richtung Gottes, das wirkliche Verhalten der Dinge unter- einander, und der Gedanken zu den Dingen, wird uns doch zum ſchwereren, demüthigern Werke mit fortreißen. Auf ſolche Weiſe, glaub’ ich, ſind wir zum ganzen hieſigen Daſein ge-

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/38>, abgerufen am 19.04.2024.