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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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Wißmann schöne Grüße; den größten Antheil an der
letztern Genesen!



An Varnhagen, in Kassel.

Bald 11 Uhr. Helles Wetter, welches eben bei diesem
Worte dunkelt. Wieder hell. Südostwind.

-- Pauvre humanite. Niemanden wird etwas gereicht,
der nicht herzhaft den bittern Kelch vor die feine Zunge nimmt;
und herunter, herunter; alles hinein! Unverhofft wird's veil-
chenartig, aromisch, süß genug; und hell um uns her, und
ruhig: und das nur, weil mir das Bittere abgetrunken, was
wir selbst hinaufgehäuft; Ungesehenes, Unwahres, Falsches so-
gar; nach dem herben, muthverlangenden Abtrinken ist reiner
Grund und Wahrheit da; und in uns; und diese ist Him-
melselement: weil ihr Wesen darin besteht und zu erkennen
ist, daß sie zu den nächsten Gliedern passen muß; und da-
durch bis zum Himmel hinauf passen kann. Alles was wir
thun können, besteht in einem richtigen Erschauen, nach innen
und außen hin; daß wir uns wiederfinden in neuem berei-
chernden Erfassen! Der Faule muß alles nachholen, noch Ein-
mal beginnen, bei harter Strafe und Schmerz; bei hartem
Befinden. Wir versuchen Alle, und oft, faul zu sein; aber
wir müssen es nicht bleiben: Clemens ruht sich wieder zu sehr
beim Katholizism aus; vorwärts, armer Clemens! je eher je
lieber. So viel Klügere auch wollen das große Defizit nicht
ertragen: und mit Goethe'n nicht "verzweiflen, wenn sie leben

Wißmann ſchöne Grüße; den größten Antheil an der
letztern Geneſen!



An Varnhagen, in Kaſſel.

Bald 11 Uhr. Helles Wetter, welches eben bei dieſem
Worte dunkelt. Wieder hell. Südoſtwind.

Pauvre humanité. Niemanden wird etwas gereicht,
der nicht herzhaft den bittern Kelch vor die feine Zunge nimmt;
und herunter, herunter; alles hinein! Unverhofft wird’s veil-
chenartig, aromiſch, ſüß genug; und hell um uns her, und
ruhig: und das nur, weil mir das Bittere abgetrunken, was
wir ſelbſt hinaufgehäuft; Ungeſehenes, Unwahres, Falſches ſo-
gar; nach dem herben, muthverlangenden Abtrinken iſt reiner
Grund und Wahrheit da; und in uns; und dieſe iſt Him-
melselement: weil ihr Weſen darin beſteht und zu erkennen
iſt, daß ſie zu den nächſten Gliedern paſſen muß; und da-
durch bis zum Himmel hinauf paſſen kann. Alles was wir
thun können, beſteht in einem richtigen Erſchauen, nach innen
und außen hin; daß wir uns wiederfinden in neuem berei-
chernden Erfaſſen! Der Faule muß alles nachholen, noch Ein-
mal beginnen, bei harter Strafe und Schmerz; bei hartem
Befinden. Wir verſuchen Alle, und oft, faul zu ſein; aber
wir müſſen es nicht bleiben: Clemens ruht ſich wieder zu ſehr
beim Katholizism aus; vorwärts, armer Clemens! je eher je
lieber. So viel Klügere auch wollen das große Defizit nicht
ertragen: und mit Goethe’n nicht „verzweiflen, wenn ſie leben

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[382/0390] Wißmann ſchöne Grüße; den größten Antheil an der letztern Geneſen! An Varnhagen, in Kaſſel. Dienstag, den 24. März 1829. Bald 11 Uhr. Helles Wetter, welches eben bei dieſem Worte dunkelt. Wieder hell. Südoſtwind. — Pauvre humanité. Niemanden wird etwas gereicht, der nicht herzhaft den bittern Kelch vor die feine Zunge nimmt; und herunter, herunter; alles hinein! Unverhofft wird’s veil- chenartig, aromiſch, ſüß genug; und hell um uns her, und ruhig: und das nur, weil mir das Bittere abgetrunken, was wir ſelbſt hinaufgehäuft; Ungeſehenes, Unwahres, Falſches ſo- gar; nach dem herben, muthverlangenden Abtrinken iſt reiner Grund und Wahrheit da; und in uns; und dieſe iſt Him- melselement: weil ihr Weſen darin beſteht und zu erkennen iſt, daß ſie zu den nächſten Gliedern paſſen muß; und da- durch bis zum Himmel hinauf paſſen kann. Alles was wir thun können, beſteht in einem richtigen Erſchauen, nach innen und außen hin; daß wir uns wiederfinden in neuem berei- chernden Erfaſſen! Der Faule muß alles nachholen, noch Ein- mal beginnen, bei harter Strafe und Schmerz; bei hartem Befinden. Wir verſuchen Alle, und oft, faul zu ſein; aber wir müſſen es nicht bleiben: Clemens ruht ſich wieder zu ſehr beim Katholizism aus; vorwärts, armer Clemens! je eher je lieber. So viel Klügere auch wollen das große Defizit nicht ertragen: und mit Goethe’n nicht „verzweiflen, wenn ſie leben

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/390>, abgerufen am 25.04.2024.