Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An Mad. Domeier, in London.

Sind wir noch dieselben?! Kann noch ein Zweifel ob-
walten, über unsere Vorexistenz? Daß man ganz aus- und
abgerieben wird, das ist doch ausgemacht: daß wir keinen An-
fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben also
unser voriges Dasein rein vergessen. Es ist eine ausgemachte
partie de plaisir, daß wir in vorgerückten Jahren uns unsere
Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu dieser, liebe Freun-
din, lade ich Sie ein! Es ist auch nur einer von den opti-
schen Betrügen, woraus unser hiesiges Leben zusammengewitzt
ist, daß wir meinen müssen, wir verändern uns. Die alte,
nämlich ewig junge Seele muß nur durch so alte Kanäle; die
Witzkombination ist doch nicht groß genug, und wiederholt
sich zu sehr: Sie sollten sonst sehen, wie jünglingsrege unsere
liebe Seele wäre, wenn sie nur alle Tage etwas Neues er-
führe; durch eigne neue Gymnastik oder andere Organe, als
da sind das Weltall! Eines der größten Witzereignisse ist
nun, daß Sie nach Deutschland kommen wollen. Nur bege-
hen Sie den großen Fehler nicht, nur sieben Wochen dazu
anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. Lassen Sie diesen
jungen Menschen allein zurückreisen; und übereilen Sie sich
nicht! Eine ganz nützliche Reise über das deutsche Land kön-
nen Sie gewiß in dieser Zeit ganz zu Stande bringen; Sie

An Mad. Domeier, in London.

Sind wir noch dieſelben?! Kann noch ein Zweifel ob-
walten, über unſere Vorexiſtenz? Daß man ganz aus- und
abgerieben wird, das iſt doch ausgemacht: daß wir keinen An-
fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben alſo
unſer voriges Daſein rein vergeſſen. Es iſt eine ausgemachte
partie de plaisir, daß wir in vorgerückten Jahren uns unſere
Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu dieſer, liebe Freun-
din, lade ich Sie ein! Es iſt auch nur einer von den opti-
ſchen Betrügen, woraus unſer hieſiges Leben zuſammengewitzt
iſt, daß wir meinen müſſen, wir verändern uns. Die alte,
nämlich ewig junge Seele muß nur durch ſo alte Kanäle; die
Witzkombination iſt doch nicht groß genug, und wiederholt
ſich zu ſehr: Sie ſollten ſonſt ſehen, wie jünglingsrege unſere
liebe Seele wäre, wenn ſie nur alle Tage etwas Neues er-
führe; durch eigne neue Gymnaſtik oder andere Organe, als
da ſind das Weltall! Eines der größten Witzereigniſſe iſt
nun, daß Sie nach Deutſchland kommen wollen. Nur bege-
hen Sie den großen Fehler nicht, nur ſieben Wochen dazu
anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. Laſſen Sie dieſen
jungen Menſchen allein zurückreiſen; und übereilen Sie ſich
nicht! Eine ganz nützliche Reiſe über das deutſche Land kön-
nen Sie gewiß in dieſer Zeit ganz zu Stande bringen; Sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0044" n="36"/>
        <div n="2">
          <head>An Mad. Domeier, in London.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 9. April 1821. Wärmliches Wetter, grauer<lb/>
Himmel mit augenblicklichem Sonnen&#x017F;chein, beinah<lb/>
abgetrocknetes &#x2014; &#x017F;chlechtes &#x2014; Pfla&#x017F;ter, einige Bäume<lb/><hi rendition="#g">wollen</hi> &#x017F;chon aufbrechen, mit glänzenden dicken<lb/>
Kno&#x017F;pen. So i&#x017F;t der 9. April <hi rendition="#g">hier</hi>.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Sind wir noch die&#x017F;elben?! Kann noch ein Zweifel ob-<lb/>
walten, über un&#x017F;ere Vorexi&#x017F;tenz? Daß man ganz aus- und<lb/>
abgerieben wird, das i&#x017F;t doch ausgemacht: daß wir keinen An-<lb/>
fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben al&#x017F;o<lb/>
un&#x017F;er voriges Da&#x017F;ein rein verge&#x017F;&#x017F;en. Es i&#x017F;t eine ausgemachte<lb/><hi rendition="#aq">partie de plaisir,</hi> daß wir in vorgerückten Jahren uns un&#x017F;ere<lb/>
Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu die&#x017F;er, liebe Freun-<lb/>
din, lade ich Sie ein! Es i&#x017F;t auch nur einer von den opti-<lb/>
&#x017F;chen Betrügen, woraus un&#x017F;er hie&#x017F;iges Leben zu&#x017F;ammengewitzt<lb/>
i&#x017F;t, daß wir meinen mü&#x017F;&#x017F;en, wir verändern uns. Die alte,<lb/>
nämlich ewig junge Seele muß nur durch &#x017F;o alte Kanäle; die<lb/>
Witzkombination i&#x017F;t doch nicht groß genug, und wiederholt<lb/>
&#x017F;ich zu &#x017F;ehr: Sie &#x017F;ollten &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;ehen, wie jünglingsrege un&#x017F;ere<lb/>
liebe Seele wäre, wenn &#x017F;ie nur alle Tage etwas Neues er-<lb/>
führe; durch eigne neue Gymna&#x017F;tik oder andere Organe, als<lb/>
da &#x017F;ind das Weltall! Eines der größten Witzereigni&#x017F;&#x017F;e i&#x017F;t<lb/>
nun, daß Sie nach Deut&#x017F;chland kommen wollen. Nur bege-<lb/>
hen Sie den großen Fehler nicht, nur &#x017F;ieben Wochen dazu<lb/>
anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. La&#x017F;&#x017F;en Sie die&#x017F;en<lb/>
jungen Men&#x017F;chen allein zurückrei&#x017F;en; und übereilen Sie &#x017F;ich<lb/>
nicht! Eine ganz nützliche Rei&#x017F;e über das deut&#x017F;che Land kön-<lb/>
nen Sie gewiß in die&#x017F;er Zeit ganz zu Stande bringen; Sie<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0044] An Mad. Domeier, in London. Berlin, den 9. April 1821. Wärmliches Wetter, grauer Himmel mit augenblicklichem Sonnenſchein, beinah abgetrocknetes — ſchlechtes — Pflaſter, einige Bäume wollen ſchon aufbrechen, mit glänzenden dicken Knoſpen. So iſt der 9. April hier. Sind wir noch dieſelben?! Kann noch ein Zweifel ob- walten, über unſere Vorexiſtenz? Daß man ganz aus- und abgerieben wird, das iſt doch ausgemacht: daß wir keinen An- fang, und kein Aufhören denken können, auch: wir haben alſo unſer voriges Daſein rein vergeſſen. Es iſt eine ausgemachte partie de plaisir, daß wir in vorgerückten Jahren uns unſere Jugend noch zu erinnren vermögen; und zu dieſer, liebe Freun- din, lade ich Sie ein! Es iſt auch nur einer von den opti- ſchen Betrügen, woraus unſer hieſiges Leben zuſammengewitzt iſt, daß wir meinen müſſen, wir verändern uns. Die alte, nämlich ewig junge Seele muß nur durch ſo alte Kanäle; die Witzkombination iſt doch nicht groß genug, und wiederholt ſich zu ſehr: Sie ſollten ſonſt ſehen, wie jünglingsrege unſere liebe Seele wäre, wenn ſie nur alle Tage etwas Neues er- führe; durch eigne neue Gymnaſtik oder andere Organe, als da ſind das Weltall! Eines der größten Witzereigniſſe iſt nun, daß Sie nach Deutſchland kommen wollen. Nur bege- hen Sie den großen Fehler nicht, nur ſieben Wochen dazu anzuwenden, wie der Scholar, Ihr Sohn. Laſſen Sie dieſen jungen Menſchen allein zurückreiſen; und übereilen Sie ſich nicht! Eine ganz nützliche Reiſe über das deutſche Land kön- nen Sie gewiß in dieſer Zeit ganz zu Stande bringen; Sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/44
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/44>, abgerufen am 25.04.2024.