Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
An Fanny Tarnow, in Dresden.

Schönes, helles, frisches Wetter. Man schreit hier Erd-
beeren in Töpfen, diese in große Körbe gesetzt, aus,
wie im Sommer.

-- Vorigen Dienstag Mittag speisten wir hier, wohlbe-
halten, um 3 Uhr. Um 11 waren wir hier. Man wird jetzt
an der preußischen Gränze ein Patriot: so schön ist Chaussee,
Postbedienung, Einrichtung, und Betragen der Beamten. Man
fährt wie ein Kourier; aber bequem und sicher auf den breiten
gutbesorgten Wegen. Ich habe auch schon ein Volksstück
gestern hier gesehen: "der Stralauer Fischzug;" das Volk
aber hatte mehr Geschmack, als Julius von Voß, und schrie
jede Platitüde en masse an, die ihm gröblich schmeichlen sollte;
trommelte gemeine Stellen mit lachender Wuth aus, pfiff bei
winzigen und etschte bei gedehnten; das Haus war der schönste
Anblick, so voll war es, von allen Klassen; der Lärm so voll-
ständig und anhaltend, daß ich meinen Kopf dem nicht zum
gänzlichen Opfer bringen mochte; und ein Drittel des Stücks
im Stich ließ; nach des Kastellans Zimmer ging, wo ich
meinen Wagen abwartete. König, Prinzen, alles war drin.
Wäre der raus gegangen, so hätte es zu viel Aufsehen ge-
macht, drum blieb er wohl. Dies theilen Sie gütigst Tieck
mit. Wie ich dazu kam in's Theater zu gehen? Ich, die
bergauf, bergab, sich gratulirte, es nicht nöthig zu haben;
sich einprägte, es nicht zu thun! Aus niedrer Feigheit --
lachete -- weil meine Familie einen Logenplatz los sein wollte.

III. 4
An Fanny Tarnow, in Dresden.

Schönes, helles, friſches Wetter. Man ſchreit hier Erd-
beeren in Töpfen, dieſe in große Körbe geſetzt, aus,
wie im Sommer.

— Vorigen Dienstag Mittag ſpeiſten wir hier, wohlbe-
halten, um 3 Uhr. Um 11 waren wir hier. Man wird jetzt
an der preußiſchen Gränze ein Patriot: ſo ſchön iſt Chauſſee,
Poſtbedienung, Einrichtung, und Betragen der Beamten. Man
fährt wie ein Kourier; aber bequem und ſicher auf den breiten
gutbeſorgten Wegen. Ich habe auch ſchon ein Volksſtück
geſtern hier geſehen: „der Stralauer Fiſchzug;“ das Volk
aber hatte mehr Geſchmack, als Julius von Voß, und ſchrie
jede Platitüde en masse an, die ihm gröblich ſchmeichlen ſollte;
trommelte gemeine Stellen mit lachender Wuth aus, pfiff bei
winzigen und etſchte bei gedehnten; das Haus war der ſchönſte
Anblick, ſo voll war es, von allen Klaſſen; der Lärm ſo voll-
ſtändig und anhaltend, daß ich meinen Kopf dem nicht zum
gänzlichen Opfer bringen mochte; und ein Drittel des Stücks
im Stich ließ; nach des Kaſtellans Zimmer ging, wo ich
meinen Wagen abwartete. König, Prinzen, alles war drin.
Wäre der raus gegangen, ſo hätte es zu viel Aufſehen ge-
macht, drum blieb er wohl. Dies theilen Sie gütigſt Tieck
mit. Wie ich dazu kam in’s Theater zu gehen? Ich, die
bergauf, bergab, ſich gratulirte, es nicht nöthig zu haben;
ſich einprägte, es nicht zu thun! Aus niedrer Feigheit —
lâcheté — weil meine Familie einen Logenplatz los ſein wollte.

III. 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0057" n="49"/>
        <div n="2">
          <head>An Fanny Tarnow, in Dresden.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, Montag den 29. Oktober 1821.</hi> </dateline><lb/>
            <p> <hi rendition="#et">Schönes, helles, fri&#x017F;ches Wetter. Man &#x017F;chreit hier Erd-<lb/>
beeren in Töpfen, die&#x017F;e in große Körbe ge&#x017F;etzt, aus,<lb/>
wie im Sommer.</hi> </p><lb/>
            <p>&#x2014; Vorigen Dienstag Mittag &#x017F;pei&#x017F;ten wir hier, wohlbe-<lb/>
halten, um 3 Uhr. Um 11 waren wir hier. Man wird jetzt<lb/>
an der preußi&#x017F;chen Gränze ein Patriot: &#x017F;o &#x017F;chön i&#x017F;t Chau&#x017F;&#x017F;ee,<lb/>
Po&#x017F;tbedienung, Einrichtung, und Betragen der Beamten. Man<lb/>
fährt wie ein Kourier; aber bequem und &#x017F;icher auf den breiten<lb/>
gutbe&#x017F;orgten Wegen. Ich habe auch &#x017F;chon ein Volks&#x017F;tück<lb/>
ge&#x017F;tern hier ge&#x017F;ehen: &#x201E;der Stralauer Fi&#x017F;chzug;&#x201C; das Volk<lb/>
aber hatte mehr Ge&#x017F;chmack, als Julius von Voß, und &#x017F;chrie<lb/>
jede Platitüde <hi rendition="#aq">en masse</hi> an, die ihm gröblich &#x017F;chmeichlen &#x017F;ollte;<lb/>
trommelte gemeine Stellen mit lachender Wuth aus, pfiff bei<lb/>
winzigen und et&#x017F;chte bei gedehnten; das Haus war der &#x017F;chön&#x017F;te<lb/>
Anblick, &#x017F;o voll war es, von allen Kla&#x017F;&#x017F;en; der Lärm &#x017F;o voll-<lb/>
&#x017F;tändig und anhaltend, daß ich meinen Kopf dem nicht zum<lb/>
gänzlichen Opfer bringen mochte; und ein Drittel des Stücks<lb/>
im Stich ließ; nach des Ka&#x017F;tellans Zimmer ging, wo ich<lb/>
meinen Wagen abwartete. König, Prinzen, alles war drin.<lb/>
Wäre der raus gegangen, &#x017F;o hätte es zu viel Auf&#x017F;ehen ge-<lb/>
macht, drum blieb er wohl. Dies theilen Sie gütig&#x017F;t Tieck<lb/>
mit. Wie ich dazu kam in&#x2019;s Theater zu gehen? Ich, die<lb/>
bergauf, bergab, &#x017F;ich gratulirte, es nicht nöthig zu haben;<lb/>
&#x017F;ich einprägte, es nicht zu thun! Aus niedrer Feigheit &#x2014;<lb/><hi rendition="#aq">lâcheté</hi> &#x2014; weil meine Familie einen Logenplatz los &#x017F;ein wollte.<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">III.</hi> 4</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0057] An Fanny Tarnow, in Dresden. Berlin, Montag den 29. Oktober 1821. Schönes, helles, friſches Wetter. Man ſchreit hier Erd- beeren in Töpfen, dieſe in große Körbe geſetzt, aus, wie im Sommer. — Vorigen Dienstag Mittag ſpeiſten wir hier, wohlbe- halten, um 3 Uhr. Um 11 waren wir hier. Man wird jetzt an der preußiſchen Gränze ein Patriot: ſo ſchön iſt Chauſſee, Poſtbedienung, Einrichtung, und Betragen der Beamten. Man fährt wie ein Kourier; aber bequem und ſicher auf den breiten gutbeſorgten Wegen. Ich habe auch ſchon ein Volksſtück geſtern hier geſehen: „der Stralauer Fiſchzug;“ das Volk aber hatte mehr Geſchmack, als Julius von Voß, und ſchrie jede Platitüde en masse an, die ihm gröblich ſchmeichlen ſollte; trommelte gemeine Stellen mit lachender Wuth aus, pfiff bei winzigen und etſchte bei gedehnten; das Haus war der ſchönſte Anblick, ſo voll war es, von allen Klaſſen; der Lärm ſo voll- ſtändig und anhaltend, daß ich meinen Kopf dem nicht zum gänzlichen Opfer bringen mochte; und ein Drittel des Stücks im Stich ließ; nach des Kaſtellans Zimmer ging, wo ich meinen Wagen abwartete. König, Prinzen, alles war drin. Wäre der raus gegangen, ſo hätte es zu viel Aufſehen ge- macht, drum blieb er wohl. Dies theilen Sie gütigſt Tieck mit. Wie ich dazu kam in’s Theater zu gehen? Ich, die bergauf, bergab, ſich gratulirte, es nicht nöthig zu haben; ſich einprägte, es nicht zu thun! Aus niedrer Feigheit — lâcheté — weil meine Familie einen Logenplatz los ſein wollte. III. 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/57
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/57>, abgerufen am 19.04.2024.