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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Achtzehnte Vorlesung.
Entwickelung der Gewebe auseinander. Es handelt
sich also für die einzelnen Fälle darum, den besonderen Mo-
dus zu erkennen, wodurch die verschiedenartigen Gewebe ent-
stehen und an bestimmten Beispielen die verschiedenen Mög-
lichkeiten kennen zu lernen, welche in Beziehung auf die Rich-
tung dieser Entwickelung überhaupt bestehen.

Meine ersten Erfahrungen, auf Grund deren ich anfing,
die herrschende Blastem- und Exsudatdoctrin in Beziehung auf
daraus hervorgehende Neubildung zu bezweifeln, datiren von
Untersuchungen über die Tuberkeln. Ich fand nämlich, dass
eine Reihe von Tuberkeln in verschiedenen Organen, insbeson-
dere in Lymphdrüsen, in den Hirnhäuten und in den Lungen
zu keiner Zeit ein erkennbares Exsudat, sondern zu jeder Zeit
ihrer Entwickelung organisirte Elemente darboten, ohne dass
je an ihnen oder vor ihnen ein Stadium des Amorphen, Ge-
staltlosen zu beobachten war. Schon vor acht Jahren erkannte
ich, dass die Entwickelung in den Lymphdrüsen bei den be-
kannten scrophulösen Veränderungen so beginnt, dass die
ersten Zustände, welche man antrifft, mit denjenigen vollkom-
men übereinstimmen, welche man sonst mit dem Namen der
Hypertrophie bezeichnet; Kerne und Zellen finden sich in
reicher Masse, zerfallen späterhin und geben direct das Mate-
rial zu der endlichen Anhäufung käsiger Substanz. Eine sol-
che Auffassung, wonach ein hypertrophirendes Gewebe in sei-
ner späteren Zeit ein vollkommen abweichendes, krankhaftes
Product liefern kann, erschien um so bedeutungsvoller, als ich
eine ganz ähnliche Reihe von Entwicklungen gleichzeitig bei
der Untersuchung eines ganz differenten Gebildes erkannte,
nämlich bei der sogenannten Typhusmasse. Damals hatte
man ganz allgemein die Ansicht der Wiener Schule, dass bei
den Typhen ein Exsudat eiweissartiger Natur und von weicher
markiger Beschaffenheit die Theile erfüllte und dass dadurch
Schwellungen von medullärem Aussehen entständen. Mag man
aber die Typhusmasse in den Lymphdrüsen des Gekröses oder
in der Umgebung der Follikel der Peyerschen Haufen unter-
suchen, so findet man zu keiner Zeit irgend ein nachweisba-
res Exsudat, sondern von den präexistirenden zelligen Elemen-

Achtzehnte Vorlesung.
Entwickelung der Gewebe auseinander. Es handelt
sich also für die einzelnen Fälle darum, den besonderen Mo-
dus zu erkennen, wodurch die verschiedenartigen Gewebe ent-
stehen und an bestimmten Beispielen die verschiedenen Mög-
lichkeiten kennen zu lernen, welche in Beziehung auf die Rich-
tung dieser Entwickelung überhaupt bestehen.

Meine ersten Erfahrungen, auf Grund deren ich anfing,
die herrschende Blastem- und Exsudatdoctrin in Beziehung auf
daraus hervorgehende Neubildung zu bezweifeln, datiren von
Untersuchungen über die Tuberkeln. Ich fand nämlich, dass
eine Reihe von Tuberkeln in verschiedenen Organen, insbeson-
dere in Lymphdrüsen, in den Hirnhäuten und in den Lungen
zu keiner Zeit ein erkennbares Exsudat, sondern zu jeder Zeit
ihrer Entwickelung organisirte Elemente darboten, ohne dass
je an ihnen oder vor ihnen ein Stadium des Amorphen, Ge-
staltlosen zu beobachten war. Schon vor acht Jahren erkannte
ich, dass die Entwickelung in den Lymphdrüsen bei den be-
kannten scrophulösen Veränderungen so beginnt, dass die
ersten Zustände, welche man antrifft, mit denjenigen vollkom-
men übereinstimmen, welche man sonst mit dem Namen der
Hypertrophie bezeichnet; Kerne und Zellen finden sich in
reicher Masse, zerfallen späterhin und geben direct das Mate-
rial zu der endlichen Anhäufung käsiger Substanz. Eine sol-
che Auffassung, wonach ein hypertrophirendes Gewebe in sei-
ner späteren Zeit ein vollkommen abweichendes, krankhaftes
Product liefern kann, erschien um so bedeutungsvoller, als ich
eine ganz ähnliche Reihe von Entwicklungen gleichzeitig bei
der Untersuchung eines ganz differenten Gebildes erkannte,
nämlich bei der sogenannten Typhusmasse. Damals hatte
man ganz allgemein die Ansicht der Wiener Schule, dass bei
den Typhen ein Exsudat eiweissartiger Natur und von weicher
markiger Beschaffenheit die Theile erfüllte und dass dadurch
Schwellungen von medullärem Aussehen entständen. Mag man
aber die Typhusmasse in den Lymphdrüsen des Gekröses oder
in der Umgebung der Follikel der Peyerschen Haufen unter-
suchen, so findet man zu keiner Zeit irgend ein nachweisba-
res Exsudat, sondern von den präexistirenden zelligen Elemen-

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[354/0376] Achtzehnte Vorlesung. Entwickelung der Gewebe auseinander. Es handelt sich also für die einzelnen Fälle darum, den besonderen Mo- dus zu erkennen, wodurch die verschiedenartigen Gewebe ent- stehen und an bestimmten Beispielen die verschiedenen Mög- lichkeiten kennen zu lernen, welche in Beziehung auf die Rich- tung dieser Entwickelung überhaupt bestehen. Meine ersten Erfahrungen, auf Grund deren ich anfing, die herrschende Blastem- und Exsudatdoctrin in Beziehung auf daraus hervorgehende Neubildung zu bezweifeln, datiren von Untersuchungen über die Tuberkeln. Ich fand nämlich, dass eine Reihe von Tuberkeln in verschiedenen Organen, insbeson- dere in Lymphdrüsen, in den Hirnhäuten und in den Lungen zu keiner Zeit ein erkennbares Exsudat, sondern zu jeder Zeit ihrer Entwickelung organisirte Elemente darboten, ohne dass je an ihnen oder vor ihnen ein Stadium des Amorphen, Ge- staltlosen zu beobachten war. Schon vor acht Jahren erkannte ich, dass die Entwickelung in den Lymphdrüsen bei den be- kannten scrophulösen Veränderungen so beginnt, dass die ersten Zustände, welche man antrifft, mit denjenigen vollkom- men übereinstimmen, welche man sonst mit dem Namen der Hypertrophie bezeichnet; Kerne und Zellen finden sich in reicher Masse, zerfallen späterhin und geben direct das Mate- rial zu der endlichen Anhäufung käsiger Substanz. Eine sol- che Auffassung, wonach ein hypertrophirendes Gewebe in sei- ner späteren Zeit ein vollkommen abweichendes, krankhaftes Product liefern kann, erschien um so bedeutungsvoller, als ich eine ganz ähnliche Reihe von Entwicklungen gleichzeitig bei der Untersuchung eines ganz differenten Gebildes erkannte, nämlich bei der sogenannten Typhusmasse. Damals hatte man ganz allgemein die Ansicht der Wiener Schule, dass bei den Typhen ein Exsudat eiweissartiger Natur und von weicher markiger Beschaffenheit die Theile erfüllte und dass dadurch Schwellungen von medullärem Aussehen entständen. Mag man aber die Typhusmasse in den Lymphdrüsen des Gekröses oder in der Umgebung der Follikel der Peyerschen Haufen unter- suchen, so findet man zu keiner Zeit irgend ein nachweisba- res Exsudat, sondern von den präexistirenden zelligen Elemen-

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/376>, abgerufen am 24.04.2024.