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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Die Elementarfaser und das Elementarkügelchen.
gewonnen ist, und dass Sie genöthigt sein werden, sich durch
die Anschauung der Objecte selbst ein Urtheil darüber zu bilden,
in wie weit das zuverlässig ist, was ich Ihnen mitzutheilen
habe.

Wenn Sie die Elementa physiologiae von Haller lesen, so
treffen Sie an die Spitze des ganzen Werkes, wo von den Ele-
menten des Körpers gehandelt wird, die Faser gestellt. Haller
gebraucht dabei den sehr charakteristischen Ausdruck, dass die
Faser, fibra, für den Physiologen sei, was die Linie für den
Geometer.

Diese Auffassung ist bald weiter ausgedehnt worden, und
die Lehre, dass für fast alle Theile des Körpers die Faser
als Grundlage diene, dass die Zusammensetzung der mannig-
fachsten Gewebe in letzter Instanz auf die Faser zurückführe,
ist namentlich bei dem Gewebe, wo, wie sich ergeben hat, die
pathologische Schwierigkeit am meisten concentrirt lag, bei dem
sogenannten Zellgewebe, am längsten festgehalten worden.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts
begann indess schon eine gewisse Reaction gegen diese Faser-
lehre, und in der Schule der Naturphilosophen kam frühzeitig
ein anderes Element zu Ehren, das aber in einer vielmehr spe-
culativen Weise begründet wurde, nämlich das Kügelchen.
Während die Einen immer noch an der Faser fest hielten, so
glaubten Andere, z. B. Milne Edwards, so weit gehen zu dürfen,
auch die Faser wieder aus linear aufgereihten Kügelchen zusam-
mengesetzt zu denken. Diese Auffassung ist zum Theil hervor
gegangen aus unzweifelhaften optischen Täuschungen bei der
mikroskopischen Beobachtung. Die schlechte Methode, welche
während des ganzen vorigen Jahrhunderts und eines Theiles des
gegenwärtigen bestand, dass man im vollen Sonnen-Licht beob-
achtete, brachte fast in alle mikroskopischen Objecte eine gewisse
Dispersion des Lichtes, und der Beobachter bekam den Ein-
druck, als sähe er weiter nichts, als Kügelchen. Andererseits
entsprach aber auch diese Anschauung den naturphilosophischen
Vorstellungen von der ersten Entstehung alles Geformten.

Diese Kügelchen (Körnchen, Moleküle) haben sich son-
derbarer Weise auch in der modernen Histologie immer noch
erhalten, und es giebt wenige histologische Werke, welche

Die Elementarfaser und das Elementarkügelchen.
gewonnen ist, und dass Sie genöthigt sein werden, sich durch
die Anschauung der Objecte selbst ein Urtheil darüber zu bilden,
in wie weit das zuverlässig ist, was ich Ihnen mitzutheilen
habe.

Wenn Sie die Elementa physiologiae von Haller lesen, so
treffen Sie an die Spitze des ganzen Werkes, wo von den Ele-
menten des Körpers gehandelt wird, die Faser gestellt. Haller
gebraucht dabei den sehr charakteristischen Ausdruck, dass die
Faser, fibra, für den Physiologen sei, was die Linie für den
Geometer.

Diese Auffassung ist bald weiter ausgedehnt worden, und
die Lehre, dass für fast alle Theile des Körpers die Faser
als Grundlage diene, dass die Zusammensetzung der mannig-
fachsten Gewebe in letzter Instanz auf die Faser zurückführe,
ist namentlich bei dem Gewebe, wo, wie sich ergeben hat, die
pathologische Schwierigkeit am meisten concentrirt lag, bei dem
sogenannten Zellgewebe, am längsten festgehalten worden.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts
begann indess schon eine gewisse Reaction gegen diese Faser-
lehre, und in der Schule der Naturphilosophen kam frühzeitig
ein anderes Element zu Ehren, das aber in einer vielmehr spe-
culativen Weise begründet wurde, nämlich das Kügelchen.
Während die Einen immer noch an der Faser fest hielten, so
glaubten Andere, z. B. Milne Edwards, so weit gehen zu dürfen,
auch die Faser wieder aus linear aufgereihten Kügelchen zusam-
mengesetzt zu denken. Diese Auffassung ist zum Theil hervor
gegangen aus unzweifelhaften optischen Täuschungen bei der
mikroskopischen Beobachtung. Die schlechte Methode, welche
während des ganzen vorigen Jahrhunderts und eines Theiles des
gegenwärtigen bestand, dass man im vollen Sonnen-Licht beob-
achtete, brachte fast in alle mikroskopischen Objecte eine gewisse
Dispersion des Lichtes, und der Beobachter bekam den Ein-
druck, als sähe er weiter nichts, als Kügelchen. Andererseits
entsprach aber auch diese Anschauung den naturphilosophischen
Vorstellungen von der ersten Entstehung alles Geformten.

Diese Kügelchen (Körnchen, Moleküle) haben sich son-
derbarer Weise auch in der modernen Histologie immer noch
erhalten, und es giebt wenige histologische Werke, welche

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[23/0045] Die Elementarfaser und das Elementarkügelchen. gewonnen ist, und dass Sie genöthigt sein werden, sich durch die Anschauung der Objecte selbst ein Urtheil darüber zu bilden, in wie weit das zuverlässig ist, was ich Ihnen mitzutheilen habe. Wenn Sie die Elementa physiologiae von Haller lesen, so treffen Sie an die Spitze des ganzen Werkes, wo von den Ele- menten des Körpers gehandelt wird, die Faser gestellt. Haller gebraucht dabei den sehr charakteristischen Ausdruck, dass die Faser, fibra, für den Physiologen sei, was die Linie für den Geometer. Diese Auffassung ist bald weiter ausgedehnt worden, und die Lehre, dass für fast alle Theile des Körpers die Faser als Grundlage diene, dass die Zusammensetzung der mannig- fachsten Gewebe in letzter Instanz auf die Faser zurückführe, ist namentlich bei dem Gewebe, wo, wie sich ergeben hat, die pathologische Schwierigkeit am meisten concentrirt lag, bei dem sogenannten Zellgewebe, am längsten festgehalten worden. Im Laufe des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts begann indess schon eine gewisse Reaction gegen diese Faser- lehre, und in der Schule der Naturphilosophen kam frühzeitig ein anderes Element zu Ehren, das aber in einer vielmehr spe- culativen Weise begründet wurde, nämlich das Kügelchen. Während die Einen immer noch an der Faser fest hielten, so glaubten Andere, z. B. Milne Edwards, so weit gehen zu dürfen, auch die Faser wieder aus linear aufgereihten Kügelchen zusam- mengesetzt zu denken. Diese Auffassung ist zum Theil hervor gegangen aus unzweifelhaften optischen Täuschungen bei der mikroskopischen Beobachtung. Die schlechte Methode, welche während des ganzen vorigen Jahrhunderts und eines Theiles des gegenwärtigen bestand, dass man im vollen Sonnen-Licht beob- achtete, brachte fast in alle mikroskopischen Objecte eine gewisse Dispersion des Lichtes, und der Beobachter bekam den Ein- druck, als sähe er weiter nichts, als Kügelchen. Andererseits entsprach aber auch diese Anschauung den naturphilosophischen Vorstellungen von der ersten Entstehung alles Geformten. Diese Kügelchen (Körnchen, Moleküle) haben sich son- derbarer Weise auch in der modernen Histologie immer noch erhalten, und es giebt wenige histologische Werke, welche

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/45>, abgerufen am 23.04.2024.