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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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in der Folge als Ergänzung des Begriffs auftreten kann. Das Eigenthüm-
liche ist angeborner Naturgrund, bedingt durch den Zufall der Entstehung in
diesem Klima, Jahrgang, von diesen Eltern und in diesem Momente, wobei
die Naturkräfte und auch von den geistigen Kräften Alles, was angeboren
heißt, als verhüllter Seelenkeim in jedem einzelnen Falle verschiedene
Proportion eingehen. Das Eigenthümliche ist immer eine Abweichung
von derjenigen Einheit der Kräfte, welche in der Gattung liegt; sehr
schwer ist die Linie zu bestimmen, wo diese Abweichung in eigentliche
Trübung, ästhetisch betrachtet in Häßlichkeit übergeht. Dieser Punkt ist
wieder aufzunehmen. Uebrigens handelt es sich hier nicht blos von der
Idee im Sinne der Naturgattung, sondern auch der sittlichen Sphäre.
Der Stoff, den in jeder sittlichen Sphäre der Geist verarbeitet, findet
sich in jedem einzelnen Falle auf andere Weise zusammen. Kein Staat
ist wie der andere, kein Krieg, keine Revolution u. s. w.

§. 33.

Das vorhandene Individuum bleibt mit den außer seiner Gattung liegenden
Bedingungen des Lebens, sowohl denjenigen, welche zu seiner eigenen Ent-
stehung zusammenwirkten, als auch einer unbestimmbaren Vielheit anderer in einer
fortdaurenden Wechselbeziehung, welche als stetiger Lebensreiz eine Reihe von Zu-
ständen und Thätigkeiten mit sich bringt, die sich ebenfalls nicht bestimmen läßt.

Auf gewissen Punkten ist, da Manche eine Aesthetik lesen, die keine
Kenntniß der Kunst haben, ein vorläufiger Fingerzeig unentbehrlich.
Daher muß solchen Lesern hier gesagt werden, daß der Satz des §.
für alle Kunst darum unendlich wichtig ist, weil nirgends Bewegung,
sey es sinnliche oder geistige, irgend zur schönen Darstellung kommt, wo
sie nicht den Ausdruck der natürlichen Freiheit von aller mathematischen
Nothwendigkeit hat, welche Freiheit von der sittlichen noch sehr zu unter-
scheiden ist. Ein Thier z. B. wird bald, so bald so zur Aufmerksamkeit,
zur Thätigkeit gereizt, es spielt, spitzt die Ohren, läßt sie hängen, legt
sich bequem nieder, wie es eben der Boden gibt, springt auf u. s. w.
Es liegt freilich streng in der Rasse, wie sich z. B. ein Hund niederlegt,
ob er sich erst öfters im Ring dreht, die Füße gekreuzt übereinander
legt u. dergl.; aber der Zufall des Ortes, der Wärme oder Kälte, der
größeren oder geringeren Müdigkeit z. B. bringt diese oder jene Besonder-
heit in die Lage, und der Thiermaler, der diese Zufälligkeit nicht dar-

in der Folge als Ergänzung des Begriffs auftreten kann. Das Eigenthüm-
liche iſt angeborner Naturgrund, bedingt durch den Zufall der Entſtehung in
dieſem Klima, Jahrgang, von dieſen Eltern und in dieſem Momente, wobei
die Naturkräfte und auch von den geiſtigen Kräften Alles, was angeboren
heißt, als verhüllter Seelenkeim in jedem einzelnen Falle verſchiedene
Proportion eingehen. Das Eigenthümliche iſt immer eine Abweichung
von derjenigen Einheit der Kräfte, welche in der Gattung liegt; ſehr
ſchwer iſt die Linie zu beſtimmen, wo dieſe Abweichung in eigentliche
Trübung, äſthetiſch betrachtet in Häßlichkeit übergeht. Dieſer Punkt iſt
wieder aufzunehmen. Uebrigens handelt es ſich hier nicht blos von der
Idee im Sinne der Naturgattung, ſondern auch der ſittlichen Sphäre.
Der Stoff, den in jeder ſittlichen Sphäre der Geiſt verarbeitet, findet
ſich in jedem einzelnen Falle auf andere Weiſe zuſammen. Kein Staat
iſt wie der andere, kein Krieg, keine Revolution u. ſ. w.

§. 33.

Das vorhandene Individuum bleibt mit den außer ſeiner Gattung liegenden
Bedingungen des Lebens, ſowohl denjenigen, welche zu ſeiner eigenen Ent-
ſtehung zuſammenwirkten, als auch einer unbeſtimmbaren Vielheit anderer in einer
fortdaurenden Wechſelbeziehung, welche als ſtetiger Lebensreiz eine Reihe von Zu-
ſtänden und Thätigkeiten mit ſich bringt, die ſich ebenfalls nicht beſtimmen läßt.

Auf gewiſſen Punkten iſt, da Manche eine Aeſthetik leſen, die keine
Kenntniß der Kunſt haben, ein vorläufiger Fingerzeig unentbehrlich.
Daher muß ſolchen Leſern hier geſagt werden, daß der Satz des §.
für alle Kunſt darum unendlich wichtig iſt, weil nirgends Bewegung,
ſey es ſinnliche oder geiſtige, irgend zur ſchönen Darſtellung kommt, wo
ſie nicht den Ausdruck der natürlichen Freiheit von aller mathematiſchen
Nothwendigkeit hat, welche Freiheit von der ſittlichen noch ſehr zu unter-
ſcheiden iſt. Ein Thier z. B. wird bald, ſo bald ſo zur Aufmerkſamkeit,
zur Thätigkeit gereizt, es ſpielt, ſpitzt die Ohren, läßt ſie hängen, legt
ſich bequem nieder, wie es eben der Boden gibt, ſpringt auf u. ſ. w.
Es liegt freilich ſtreng in der Raſſe, wie ſich z. B. ein Hund niederlegt,
ob er ſich erſt öfters im Ring dreht, die Füße gekreuzt übereinander
legt u. dergl.; aber der Zufall des Ortes, der Wärme oder Kälte, der
größeren oder geringeren Müdigkeit z. B. bringt dieſe oder jene Beſonder-
heit in die Lage, und der Thiermaler, der dieſe Zufälligkeit nicht dar-

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[95/0109] in der Folge als Ergänzung des Begriffs auftreten kann. Das Eigenthüm- liche iſt angeborner Naturgrund, bedingt durch den Zufall der Entſtehung in dieſem Klima, Jahrgang, von dieſen Eltern und in dieſem Momente, wobei die Naturkräfte und auch von den geiſtigen Kräften Alles, was angeboren heißt, als verhüllter Seelenkeim in jedem einzelnen Falle verſchiedene Proportion eingehen. Das Eigenthümliche iſt immer eine Abweichung von derjenigen Einheit der Kräfte, welche in der Gattung liegt; ſehr ſchwer iſt die Linie zu beſtimmen, wo dieſe Abweichung in eigentliche Trübung, äſthetiſch betrachtet in Häßlichkeit übergeht. Dieſer Punkt iſt wieder aufzunehmen. Uebrigens handelt es ſich hier nicht blos von der Idee im Sinne der Naturgattung, ſondern auch der ſittlichen Sphäre. Der Stoff, den in jeder ſittlichen Sphäre der Geiſt verarbeitet, findet ſich in jedem einzelnen Falle auf andere Weiſe zuſammen. Kein Staat iſt wie der andere, kein Krieg, keine Revolution u. ſ. w. §. 33. Das vorhandene Individuum bleibt mit den außer ſeiner Gattung liegenden Bedingungen des Lebens, ſowohl denjenigen, welche zu ſeiner eigenen Ent- ſtehung zuſammenwirkten, als auch einer unbeſtimmbaren Vielheit anderer in einer fortdaurenden Wechſelbeziehung, welche als ſtetiger Lebensreiz eine Reihe von Zu- ſtänden und Thätigkeiten mit ſich bringt, die ſich ebenfalls nicht beſtimmen läßt. Auf gewiſſen Punkten iſt, da Manche eine Aeſthetik leſen, die keine Kenntniß der Kunſt haben, ein vorläufiger Fingerzeig unentbehrlich. Daher muß ſolchen Leſern hier geſagt werden, daß der Satz des §. für alle Kunſt darum unendlich wichtig iſt, weil nirgends Bewegung, ſey es ſinnliche oder geiſtige, irgend zur ſchönen Darſtellung kommt, wo ſie nicht den Ausdruck der natürlichen Freiheit von aller mathematiſchen Nothwendigkeit hat, welche Freiheit von der ſittlichen noch ſehr zu unter- ſcheiden iſt. Ein Thier z. B. wird bald, ſo bald ſo zur Aufmerkſamkeit, zur Thätigkeit gereizt, es ſpielt, ſpitzt die Ohren, läßt ſie hängen, legt ſich bequem nieder, wie es eben der Boden gibt, ſpringt auf u. ſ. w. Es liegt freilich ſtreng in der Raſſe, wie ſich z. B. ein Hund niederlegt, ob er ſich erſt öfters im Ring dreht, die Füße gekreuzt übereinander legt u. dergl.; aber der Zufall des Ortes, der Wärme oder Kälte, der größeren oder geringeren Müdigkeit z. B. bringt dieſe oder jene Beſonder- heit in die Lage, und der Thiermaler, der dieſe Zufälligkeit nicht dar-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/109>, abgerufen am 19.03.2024.