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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Berechtigung jener Gegensätze scheitert, so hebt sich die Möglichkeit einer solchen
Aussage auch dadurch auf, daß sowohl die Gattung als die Zufälligkeit der
Individuen eine Reihe verschiedener Stufen durchläuft. Was die Gattung be-
trifft, so wechselt je mit der Stufe der bestimmten Idee (§. 17 ff.) auch die
sinnliche Gestalt ihrer Individuen, sie steigt von niedrigeren und ärmeren zu
reicheren und beseelteren Organismen auf und was Richtmaß für den einen ist,
kann es natürlich nicht für den andern seyn.

Eigentlich leuchtet diese Wahrheit, welche schon in den Anm. zum
vorh. §. auszusprechen nicht vermieden werden konnte, völlig von selbst ein;
man wird sich aber überzeugen, wie nothwendig es ist, das Einfachste aus-
drücklich herauszustellen, wenn man die Verwirrung in der betreffenden
Literatur betrachtet, die in jenen Anmerkungen dargestellt ist. Burke z. B.
verkennt nicht, daß "das Schöne jeder Gattung andere Verhältnisse hat",
stellt aber im Verlaufe seine isolirten äußerlichen Bestimmungen auf, nicht
nur ohne zu zeigen, wie jede Stufe eine reiche Concretion solcher Be-
stimmungen darstellt, sondern überhaupt ohne an eine Stufenfolge zu
denken; läßt er doch nach der Schönheit der Physiognomie noch die
Schönheit für den Tastsinn folgen.

§. 38.

Als Lösung dieser Schwierigkeit scheint sich einfach die Aufgabe darzu-1
bieten, für jede Stufe ein anderes Merkmal oder Richtmaß aufzustellen, um
so mehr, da, je größer der Reichthum der Momente, den eine Stufe in sich
begreift, um so deutlicher auch die Idee als bindender und Maße bestimmender
Einheitspunkt in ihr wirkt. Allein in demselben Grade, wie die hiedurch2
gegebene Regelmäßigkeit, wächst auch mit jeder Stufe die Zufälligkeit, entbindet
sich zur Freiheit und Eigenheit des gegen die Gattung sich behauptenden In-
dividuums und macht sich als Spiel der Abweichung von der Regel geltend.

1. Die Regelmäßigkeit der Proportion, selbst theilweise als Symmetrie
im Sinne geometrisch gleich sich gegenüberstehenden Theile, wächst mit der
Höhe und dem Reichthum der Stufen. Man könnte dagegen einwenden,
daß gerade niedrige Naturproducte, wie Krystalle, Salze, in der Thier-
welt die Muscheln, die strengste Regelmäßigkeit zeigen; man könnte dazu
setzen, daß auch die vergleichungsweise am wenigsten sprechende Kunst,
die Baukunst, am strengsten sich in mathematische Regel einschließe. Allein
es ist hier von der höheren Regelmäßigkeit die Rede, welche ihre con-

Berechtigung jener Gegenſätze ſcheitert, ſo hebt ſich die Möglichkeit einer ſolchen
Ausſage auch dadurch auf, daß ſowohl die Gattung als die Zufälligkeit der
Individuen eine Reihe verſchiedener Stufen durchläuft. Was die Gattung be-
trifft, ſo wechſelt je mit der Stufe der beſtimmten Idee (§. 17 ff.) auch die
ſinnliche Geſtalt ihrer Individuen, ſie ſteigt von niedrigeren und ärmeren zu
reicheren und beſeelteren Organismen auf und was Richtmaß für den einen iſt,
kann es natürlich nicht für den andern ſeyn.

Eigentlich leuchtet dieſe Wahrheit, welche ſchon in den Anm. zum
vorh. §. auszuſprechen nicht vermieden werden konnte, völlig von ſelbſt ein;
man wird ſich aber überzeugen, wie nothwendig es iſt, das Einfachſte aus-
drücklich herauszuſtellen, wenn man die Verwirrung in der betreffenden
Literatur betrachtet, die in jenen Anmerkungen dargeſtellt iſt. Burke z. B.
verkennt nicht, daß „das Schöne jeder Gattung andere Verhältniſſe hat“,
ſtellt aber im Verlaufe ſeine iſolirten äußerlichen Beſtimmungen auf, nicht
nur ohne zu zeigen, wie jede Stufe eine reiche Concretion ſolcher Be-
ſtimmungen darſtellt, ſondern überhaupt ohne an eine Stufenfolge zu
denken; läßt er doch nach der Schönheit der Phyſiognomie noch die
Schönheit für den Taſtſinn folgen.

§. 38.

Als Löſung dieſer Schwierigkeit ſcheint ſich einfach die Aufgabe darzu-1
bieten, für jede Stufe ein anderes Merkmal oder Richtmaß aufzuſtellen, um
ſo mehr, da, je größer der Reichthum der Momente, den eine Stufe in ſich
begreift, um ſo deutlicher auch die Idee als bindender und Maße beſtimmender
Einheitspunkt in ihr wirkt. Allein in demſelben Grade, wie die hiedurch2
gegebene Regelmäßigkeit, wächst auch mit jeder Stufe die Zufälligkeit, entbindet
ſich zur Freiheit und Eigenheit des gegen die Gattung ſich behauptenden In-
dividuums und macht ſich als Spiel der Abweichung von der Regel geltend.

1. Die Regelmäßigkeit der Proportion, ſelbſt theilweiſe als Symmetrie
im Sinne geometriſch gleich ſich gegenüberſtehenden Theile, wächst mit der
Höhe und dem Reichthum der Stufen. Man könnte dagegen einwenden,
daß gerade niedrige Naturproducte, wie Kryſtalle, Salze, in der Thier-
welt die Muſcheln, die ſtrengſte Regelmäßigkeit zeigen; man könnte dazu
ſetzen, daß auch die vergleichungsweiſe am wenigſten ſprechende Kunſt,
die Baukunſt, am ſtrengſten ſich in mathematiſche Regel einſchließe. Allein
es iſt hier von der höheren Regelmäßigkeit die Rede, welche ihre con-

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[109/0123] Berechtigung jener Gegenſätze ſcheitert, ſo hebt ſich die Möglichkeit einer ſolchen Ausſage auch dadurch auf, daß ſowohl die Gattung als die Zufälligkeit der Individuen eine Reihe verſchiedener Stufen durchläuft. Was die Gattung be- trifft, ſo wechſelt je mit der Stufe der beſtimmten Idee (§. 17 ff.) auch die ſinnliche Geſtalt ihrer Individuen, ſie ſteigt von niedrigeren und ärmeren zu reicheren und beſeelteren Organismen auf und was Richtmaß für den einen iſt, kann es natürlich nicht für den andern ſeyn. Eigentlich leuchtet dieſe Wahrheit, welche ſchon in den Anm. zum vorh. §. auszuſprechen nicht vermieden werden konnte, völlig von ſelbſt ein; man wird ſich aber überzeugen, wie nothwendig es iſt, das Einfachſte aus- drücklich herauszuſtellen, wenn man die Verwirrung in der betreffenden Literatur betrachtet, die in jenen Anmerkungen dargeſtellt iſt. Burke z. B. verkennt nicht, daß „das Schöne jeder Gattung andere Verhältniſſe hat“, ſtellt aber im Verlaufe ſeine iſolirten äußerlichen Beſtimmungen auf, nicht nur ohne zu zeigen, wie jede Stufe eine reiche Concretion ſolcher Be- ſtimmungen darſtellt, ſondern überhaupt ohne an eine Stufenfolge zu denken; läßt er doch nach der Schönheit der Phyſiognomie noch die Schönheit für den Taſtſinn folgen. §. 38. Als Löſung dieſer Schwierigkeit ſcheint ſich einfach die Aufgabe darzu- bieten, für jede Stufe ein anderes Merkmal oder Richtmaß aufzuſtellen, um ſo mehr, da, je größer der Reichthum der Momente, den eine Stufe in ſich begreift, um ſo deutlicher auch die Idee als bindender und Maße beſtimmender Einheitspunkt in ihr wirkt. Allein in demſelben Grade, wie die hiedurch gegebene Regelmäßigkeit, wächst auch mit jeder Stufe die Zufälligkeit, entbindet ſich zur Freiheit und Eigenheit des gegen die Gattung ſich behauptenden In- dividuums und macht ſich als Spiel der Abweichung von der Regel geltend. 1. Die Regelmäßigkeit der Proportion, ſelbſt theilweiſe als Symmetrie im Sinne geometriſch gleich ſich gegenüberſtehenden Theile, wächst mit der Höhe und dem Reichthum der Stufen. Man könnte dagegen einwenden, daß gerade niedrige Naturproducte, wie Kryſtalle, Salze, in der Thier- welt die Muſcheln, die ſtrengſte Regelmäßigkeit zeigen; man könnte dazu ſetzen, daß auch die vergleichungsweiſe am wenigſten ſprechende Kunſt, die Baukunſt, am ſtrengſten ſich in mathematiſche Regel einſchließe. Allein es iſt hier von der höheren Regelmäßigkeit die Rede, welche ihre con-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/123>, abgerufen am 19.03.2024.