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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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warum wird in unserer ganzen Entwicklung dieser Gang nicht geradezu
als der richtige aufgenommen? Darum nicht, weil diese Einheit von
Natur und Geist, wenn sie im Subjecte und durch dasselbe ihre wahre
Wirklichkeit erhalten soll, vorher als allgemeine Wirklichkeit der Idee
metaphysisch begriffen seyn muß und weil, wenn es sich auch als wahr
erweisen wird, daß die Schönheit durch das Subject in den Gegenstand
hineingetragen wird, sofern sie Naturschönheit, und daß sie von ihm
ganz erst geschaffen wird, sofern sie Kunstschönheit ist, immer noch die
Frage vorausgeht, was denn im Gegenstande es sey, wodurch das Sub-
ject zu jenem Hineintragen berechtigt und aufgefordert werde? Ganz
gemeinverständlich ausgedrückt: der Künstler sucht Stoffe und macht
Studien in der wirklichen Welt. Einiges taugt ihm dazu, Anderes
nicht. Ich muß aber zuerst aufweisen, warum und wodurch ihm die
vor ihm und ohne ihn vorhandene Wirklichkeit eine Fundgrube ist, ehe
ich ihn selbst zum Gegenstande mache; die Welt, die der Ort seiner
Studien seyn soll, muß schon gefunden seyn, ehe er in sie eintreten kann.

Schiller's treffliche ästhetische Abhandlungen stehen ganz auf Kanti-
schem Boden. Wenn nun in den genannten Punkten Kant selbst über
sich hinausstrebt, so ist dies Hinausstreben über den Dualismus des
Begriffs und der Realität in Schiller's Betrachtungen der Grund-
charakter wie in seiner Poesie. Aber die Einheit von Geist und Natur,
Unendlichkeit und Endlichkeit, Materie und Form, Pflicht und Neigung,
Idee und Begrenzung, Freiheit und Nothwendigkeit, die freie Zustim-
mung des sinnlichen Impulses zum sittlichen, wie sie Schiller in hundert
Wendungen ausspricht, ist bei ihm immer nur Ziel, Erstrebtes, Postulat;
zu erklären ist sie nicht, eine Wirklichkeit ist sie nicht und Schiller
bleibt daher bei der Begriffsbestimmung des Naiven und der Anmuth
immer die letzten Gründe schuldig, während er das Sentimentale, die
Würde und das negative Pathos sehr richtig und erschöpfend begreift. Wir
werden ihm auf einzelnen Punkten wieder begegnen und seine spezielleren
Verdienste würdigen.

§. 44.

1

Der subjective Idealismus Fichte's ist zu naturlos, um den nach §. 43
von Kant nahe gelegten Weg einzuschlagen und einem tiefen Gedanken über
das Schöne, den er in dieser Richtung vereinzelt erzeugt hat, Folge zu geben.
2Er sollte erst durch Schelling zum objectiven Idealismus umgebildet werden,

warum wird in unſerer ganzen Entwicklung dieſer Gang nicht geradezu
als der richtige aufgenommen? Darum nicht, weil dieſe Einheit von
Natur und Geiſt, wenn ſie im Subjecte und durch daſſelbe ihre wahre
Wirklichkeit erhalten ſoll, vorher als allgemeine Wirklichkeit der Idee
metaphyſiſch begriffen ſeyn muß und weil, wenn es ſich auch als wahr
erweiſen wird, daß die Schönheit durch das Subject in den Gegenſtand
hineingetragen wird, ſofern ſie Naturſchönheit, und daß ſie von ihm
ganz erſt geſchaffen wird, ſofern ſie Kunſtſchönheit iſt, immer noch die
Frage vorausgeht, was denn im Gegenſtande es ſey, wodurch das Sub-
ject zu jenem Hineintragen berechtigt und aufgefordert werde? Ganz
gemeinverſtändlich ausgedrückt: der Künſtler ſucht Stoffe und macht
Studien in der wirklichen Welt. Einiges taugt ihm dazu, Anderes
nicht. Ich muß aber zuerſt aufweiſen, warum und wodurch ihm die
vor ihm und ohne ihn vorhandene Wirklichkeit eine Fundgrube iſt, ehe
ich ihn ſelbſt zum Gegenſtande mache; die Welt, die der Ort ſeiner
Studien ſeyn ſoll, muß ſchon gefunden ſeyn, ehe er in ſie eintreten kann.

Schiller’s treffliche äſthetiſche Abhandlungen ſtehen ganz auf Kanti-
ſchem Boden. Wenn nun in den genannten Punkten Kant ſelbſt über
ſich hinausſtrebt, ſo iſt dies Hinausſtreben über den Dualismus des
Begriffs und der Realität in Schiller’s Betrachtungen der Grund-
charakter wie in ſeiner Poeſie. Aber die Einheit von Geiſt und Natur,
Unendlichkeit und Endlichkeit, Materie und Form, Pflicht und Neigung,
Idee und Begrenzung, Freiheit und Nothwendigkeit, die freie Zuſtim-
mung des ſinnlichen Impulſes zum ſittlichen, wie ſie Schiller in hundert
Wendungen ausſpricht, iſt bei ihm immer nur Ziel, Erſtrebtes, Poſtulat;
zu erklären iſt ſie nicht, eine Wirklichkeit iſt ſie nicht und Schiller
bleibt daher bei der Begriffsbeſtimmung des Naiven und der Anmuth
immer die letzten Gründe ſchuldig, während er das Sentimentale, die
Würde und das negative Pathos ſehr richtig und erſchöpfend begreift. Wir
werden ihm auf einzelnen Punkten wieder begegnen und ſeine ſpezielleren
Verdienſte würdigen.

§. 44.

1

Der ſubjective Idealismus Fichte’s iſt zu naturlos, um den nach §. 43
von Kant nahe gelegten Weg einzuſchlagen und einem tiefen Gedanken über
das Schöne, den er in dieſer Richtung vereinzelt erzeugt hat, Folge zu geben.
2Er ſollte erſt durch Schelling zum objectiven Idealismus umgebildet werden,

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[128/0142] warum wird in unſerer ganzen Entwicklung dieſer Gang nicht geradezu als der richtige aufgenommen? Darum nicht, weil dieſe Einheit von Natur und Geiſt, wenn ſie im Subjecte und durch daſſelbe ihre wahre Wirklichkeit erhalten ſoll, vorher als allgemeine Wirklichkeit der Idee metaphyſiſch begriffen ſeyn muß und weil, wenn es ſich auch als wahr erweiſen wird, daß die Schönheit durch das Subject in den Gegenſtand hineingetragen wird, ſofern ſie Naturſchönheit, und daß ſie von ihm ganz erſt geſchaffen wird, ſofern ſie Kunſtſchönheit iſt, immer noch die Frage vorausgeht, was denn im Gegenſtande es ſey, wodurch das Sub- ject zu jenem Hineintragen berechtigt und aufgefordert werde? Ganz gemeinverſtändlich ausgedrückt: der Künſtler ſucht Stoffe und macht Studien in der wirklichen Welt. Einiges taugt ihm dazu, Anderes nicht. Ich muß aber zuerſt aufweiſen, warum und wodurch ihm die vor ihm und ohne ihn vorhandene Wirklichkeit eine Fundgrube iſt, ehe ich ihn ſelbſt zum Gegenſtande mache; die Welt, die der Ort ſeiner Studien ſeyn ſoll, muß ſchon gefunden ſeyn, ehe er in ſie eintreten kann. Schiller’s treffliche äſthetiſche Abhandlungen ſtehen ganz auf Kanti- ſchem Boden. Wenn nun in den genannten Punkten Kant ſelbſt über ſich hinausſtrebt, ſo iſt dies Hinausſtreben über den Dualismus des Begriffs und der Realität in Schiller’s Betrachtungen der Grund- charakter wie in ſeiner Poeſie. Aber die Einheit von Geiſt und Natur, Unendlichkeit und Endlichkeit, Materie und Form, Pflicht und Neigung, Idee und Begrenzung, Freiheit und Nothwendigkeit, die freie Zuſtim- mung des ſinnlichen Impulſes zum ſittlichen, wie ſie Schiller in hundert Wendungen ausſpricht, iſt bei ihm immer nur Ziel, Erſtrebtes, Poſtulat; zu erklären iſt ſie nicht, eine Wirklichkeit iſt ſie nicht und Schiller bleibt daher bei der Begriffsbeſtimmung des Naiven und der Anmuth immer die letzten Gründe ſchuldig, während er das Sentimentale, die Würde und das negative Pathos ſehr richtig und erſchöpfend begreift. Wir werden ihm auf einzelnen Punkten wieder begegnen und ſeine ſpezielleren Verdienſte würdigen. §. 44. Der ſubjective Idealismus Fichte’s iſt zu naturlos, um den nach §. 43 von Kant nahe gelegten Weg einzuſchlagen und einem tiefen Gedanken über das Schöne, den er in dieſer Richtung vereinzelt erzeugt hat, Folge zu geben. Er ſollte erſt durch Schelling zum objectiven Idealismus umgebildet werden,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/142>, abgerufen am 19.03.2024.