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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Durch diesen trefflichen Satz erhellt plötzlich, wo es eigentlich der Platoni-
schen Bestimmung (§. 36, 1) fehlt. Das Schöne nun begreift Solger,
nachdem er zwischen diese Entwicklung Deductionen eingeschoben hat,
welche freilich von der Wissenschaft plötzlich und unvermittelt zur Vor-
stellung Gottes abschweifen, welche aber hier nicht zu beurtheilen sind,
ganz so, wie wir es bestimmt haben, als jene reine Einheit des Wesens
und der Erscheinung, welche in einem Einzelnen zum Ausdrucke kommt.
Das Schöne ist "die vollständige Durchdringung des Begriffs und der
Erscheinung, welche selbst erscheint" (Thl. 1, S. 170), "die Einheit des
Wesens und der Erscheinung in der Erscheinung, wenn sie zur
Wahrnehmung kommt
." (S. 161). Ein solches Einzelnes ist daher
eine Welt für sich, ein Weltall, dies hebt Solger durchgängig in's
Licht (Weiße: "Mikrokosmus" vergl. §. 15, 2). Aber es darf darum
nicht aus dem Zusammenhange der übrigen Dinge herausgenommen, es
muß ein ganz Einzelnes und Besonderes "nicht blos Denkbares und
Erschlossenes, in den allgemeinen Begriff Zerfließendes, sondern die
ganze Kraft der Besonderheit, Begrenztheit und Gegenwart muß darin
seyn." An mehreren Orten wird ausdrücklich die Zufälligkeit mit
einbedungen, namentlich S. 180: "was der Zufall der Einzelheit mit
sich bringt, ist hier zugleich das Ewige und Nothwendige und Ursprüng-
liche, so daß die wesentliche, sich selbst genügende Einheit Gottes unver-
sehrt durch jeden auch noch so kleinen Theil des Wirklichen und Einzelnen
hindurchleuchtet." In diesem Begriffe hat nun erst die Aesthetik ein
Prinzip, und was auch gegen Solgers Entwicklung dieses Prinzips
zum System im Einzelnen einzuwenden seyn mag, er ist der Erste, der
erkannt hat, daß das System die innere Bewegung der verschiedenen
Stellungen, welche die in jenem Prinzip eingeschlossenen Momente gegen-
einander einnehmen können, zu entfalten habe.

§. 45.

1

Die Mängel der dialektischen Entwicklung, an welchen jedoch die erste
Aufstellung jenes Prinzips leidet, liegen darin, daß, wie das Prinzip selbst
mehr gefunden, als begründet ist, ebenso auch die bestimmte Idee nicht mit
Nothwendigkeit aus der obsoluten entwickelt und an ihren Ort gestellt, daß
ferner die Individualität nicht als wesentliche Wirklichkeit und lebenskräftiger
Zusammenschluß der mit ihren Momenten in ihr gegenwärtigen Idee begriffen
wird, was auf die Lehre vom Schönen den Einfluß hat, daß sowohl der Inhalt

Durch dieſen trefflichen Satz erhellt plötzlich, wo es eigentlich der Platoni-
ſchen Beſtimmung (§. 36, 1) fehlt. Das Schöne nun begreift Solger,
nachdem er zwiſchen dieſe Entwicklung Deductionen eingeſchoben hat,
welche freilich von der Wiſſenſchaft plötzlich und unvermittelt zur Vor-
ſtellung Gottes abſchweifen, welche aber hier nicht zu beurtheilen ſind,
ganz ſo, wie wir es beſtimmt haben, als jene reine Einheit des Weſens
und der Erſcheinung, welche in einem Einzelnen zum Ausdrucke kommt.
Das Schöne iſt „die vollſtändige Durchdringung des Begriffs und der
Erſcheinung, welche ſelbſt erſcheint“ (Thl. 1, S. 170), „die Einheit des
Weſens und der Erſcheinung in der Erſcheinung, wenn ſie zur
Wahrnehmung kommt
.“ (S. 161). Ein ſolches Einzelnes iſt daher
eine Welt für ſich, ein Weltall, dies hebt Solger durchgängig in’s
Licht (Weiße: „Mikrokosmus“ vergl. §. 15, 2). Aber es darf darum
nicht aus dem Zuſammenhange der übrigen Dinge herausgenommen, es
muß ein ganz Einzelnes und Beſonderes „nicht blos Denkbares und
Erſchloſſenes, in den allgemeinen Begriff Zerfließendes, ſondern die
ganze Kraft der Beſonderheit, Begrenztheit und Gegenwart muß darin
ſeyn.“ An mehreren Orten wird ausdrücklich die Zufälligkeit mit
einbedungen, namentlich S. 180: „was der Zufall der Einzelheit mit
ſich bringt, iſt hier zugleich das Ewige und Nothwendige und Urſprüng-
liche, ſo daß die weſentliche, ſich ſelbſt genügende Einheit Gottes unver-
ſehrt durch jeden auch noch ſo kleinen Theil des Wirklichen und Einzelnen
hindurchleuchtet.“ In dieſem Begriffe hat nun erſt die Aeſthetik ein
Prinzip, und was auch gegen Solgers Entwicklung dieſes Prinzips
zum Syſtem im Einzelnen einzuwenden ſeyn mag, er iſt der Erſte, der
erkannt hat, daß das Syſtem die innere Bewegung der verſchiedenen
Stellungen, welche die in jenem Prinzip eingeſchloſſenen Momente gegen-
einander einnehmen können, zu entfalten habe.

§. 45.

1

Die Mängel der dialektiſchen Entwicklung, an welchen jedoch die erſte
Aufſtellung jenes Prinzips leidet, liegen darin, daß, wie das Prinzip ſelbſt
mehr gefunden, als begründet iſt, ebenſo auch die beſtimmte Idee nicht mit
Nothwendigkeit aus der obſoluten entwickelt und an ihren Ort geſtellt, daß
ferner die Individualität nicht als weſentliche Wirklichkeit und lebenskräftiger
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[132/0146] Durch dieſen trefflichen Satz erhellt plötzlich, wo es eigentlich der Platoni- ſchen Beſtimmung (§. 36, 1) fehlt. Das Schöne nun begreift Solger, nachdem er zwiſchen dieſe Entwicklung Deductionen eingeſchoben hat, welche freilich von der Wiſſenſchaft plötzlich und unvermittelt zur Vor- ſtellung Gottes abſchweifen, welche aber hier nicht zu beurtheilen ſind, ganz ſo, wie wir es beſtimmt haben, als jene reine Einheit des Weſens und der Erſcheinung, welche in einem Einzelnen zum Ausdrucke kommt. Das Schöne iſt „die vollſtändige Durchdringung des Begriffs und der Erſcheinung, welche ſelbſt erſcheint“ (Thl. 1, S. 170), „die Einheit des Weſens und der Erſcheinung in der Erſcheinung, wenn ſie zur Wahrnehmung kommt.“ (S. 161). Ein ſolches Einzelnes iſt daher eine Welt für ſich, ein Weltall, dies hebt Solger durchgängig in’s Licht (Weiße: „Mikrokosmus“ vergl. §. 15, 2). Aber es darf darum nicht aus dem Zuſammenhange der übrigen Dinge herausgenommen, es muß ein ganz Einzelnes und Beſonderes „nicht blos Denkbares und Erſchloſſenes, in den allgemeinen Begriff Zerfließendes, ſondern die ganze Kraft der Beſonderheit, Begrenztheit und Gegenwart muß darin ſeyn.“ An mehreren Orten wird ausdrücklich die Zufälligkeit mit einbedungen, namentlich S. 180: „was der Zufall der Einzelheit mit ſich bringt, iſt hier zugleich das Ewige und Nothwendige und Urſprüng- liche, ſo daß die weſentliche, ſich ſelbſt genügende Einheit Gottes unver- ſehrt durch jeden auch noch ſo kleinen Theil des Wirklichen und Einzelnen hindurchleuchtet.“ In dieſem Begriffe hat nun erſt die Aeſthetik ein Prinzip, und was auch gegen Solgers Entwicklung dieſes Prinzips zum Syſtem im Einzelnen einzuwenden ſeyn mag, er iſt der Erſte, der erkannt hat, daß das Syſtem die innere Bewegung der verſchiedenen Stellungen, welche die in jenem Prinzip eingeſchloſſenen Momente gegen- einander einnehmen können, zu entfalten habe. §. 45. Die Mängel der dialektiſchen Entwicklung, an welchen jedoch die erſte Aufſtellung jenes Prinzips leidet, liegen darin, daß, wie das Prinzip ſelbſt mehr gefunden, als begründet iſt, ebenſo auch die beſtimmte Idee nicht mit Nothwendigkeit aus der obſoluten entwickelt und an ihren Ort geſtellt, daß ferner die Individualität nicht als weſentliche Wirklichkeit und lebenskräftiger Zuſammenſchluß der mit ihren Momenten in ihr gegenwärtigen Idee begriffen wird, was auf die Lehre vom Schönen den Einfluß hat, daß ſowohl der Inhalt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/146>, abgerufen am 19.03.2024.