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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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formten Stoffen, Luft, Wasser, nährenden Pflanzen, Thieren u. s. w.
ist vorausgesetzt, um diese Reife hervorzubringen. Allein jede Gattung
bedarf solchen von andern Gattungen schon geformten Stoffes und nimmt
durch denselben nichts Fremdes und Trübendes in sich auf, sondern ist
mit der wohl geschnittenen Stempelform zu vergleichen, welche dem ihr,
wann und wo es sey, gegebenen Stoffe scharf und bestimmt ihre Form
aufprägt.

§. 48.

Die unendliche Eigenheit der Individuen (§. 32) ist auf denjenigen1
Stufen, wo die Idee nicht als Subjectivität wirklich ist, von geringer Be-
deutung, das Einzelne erscheint nur als selbstloser Durchgang des Allgemeinen.
Dagegen wo die Idee als Seele und höher als Geist wirkt, da steigt in dem2
Grade, in welchem ein Individuum das Allgemeine seiner Gattung in sich
darstellt, die Eigenthümlichkeit und umgekehrt; weit entfernt, einander auszu-
schließen, fordern sich also vielmehr diese Gegensätze und hebt sich der in §. 38
aufgestellte Widerspruch in seiner Entstehung auf. Die Eigenthümlichkeit ist
nämlich zunächst eine nur diesem und keinem andern Individuum eigene Weise,
wie sich die Kräfte der Gattung in ihm durchdringen; diese Durchdringung setzt
aber für ihre verschlungene Einheit einen Reichthum von Kräften voraus, und
wo dieser ist, da werden allerdings die fehlenden vermißt, fällt also die Indi-
vidualität als solche im Unterschied von der Gattung in die Augen, da erscheint
aber ebensosehr die Gattung in einer Fülle von Kräften dargestellt, gewinnt
daher das Individuum allgemeine Bedeutung und sticht dadurch von den ge-
wöhnlichen Individuen ab.

1. In der unorganischen und vegetabilischen Natur ist das Einzelne
von ganz verschwindender Bedeutung. Im Zusammenhange der Aesthetik
wird dies sogleich dadurch klar, daß nicht vereinzelt eine Wolke, Erd-
bildung u. s. w. zur Darstellung kommen kann; der Gegenstand selbst
läuft in diesen Sphären in eine Continuität aus, worin das Einzelne sich
nicht abschneidet. Von mineralischen Gebilden wird an seinem Orte die Rede
seyn. Einzelne vegetabilische Bildungen, ein Baum z. B., werden wohl
auch bewundert und dargestellt, aber nie wird ein Maler einen Baum dar-
stellen dürfen ohne Luft, Erde, ein Stück Landschaft, thierische oder mensch-
liche Staffage, während er doch sehr wohl einen Menschen abbilden kann ohne
irgend ein Beiwerk und mit einem blosen Schatten als Hintergrund; ja wohl

formten Stoffen, Luft, Waſſer, nährenden Pflanzen, Thieren u. ſ. w.
iſt vorausgeſetzt, um dieſe Reife hervorzubringen. Allein jede Gattung
bedarf ſolchen von andern Gattungen ſchon geformten Stoffes und nimmt
durch denſelben nichts Fremdes und Trübendes in ſich auf, ſondern iſt
mit der wohl geſchnittenen Stempelform zu vergleichen, welche dem ihr,
wann und wo es ſey, gegebenen Stoffe ſcharf und beſtimmt ihre Form
aufprägt.

§. 48.

Die unendliche Eigenheit der Individuen (§. 32) iſt auf denjenigen1
Stufen, wo die Idee nicht als Subjectivität wirklich iſt, von geringer Be-
deutung, das Einzelne erſcheint nur als ſelbſtloſer Durchgang des Allgemeinen.
Dagegen wo die Idee als Seele und höher als Geiſt wirkt, da ſteigt in dem2
Grade, in welchem ein Individuum das Allgemeine ſeiner Gattung in ſich
darſtellt, die Eigenthümlichkeit und umgekehrt; weit entfernt, einander auszu-
ſchließen, fordern ſich alſo vielmehr dieſe Gegenſätze und hebt ſich der in §. 38
aufgeſtellte Widerſpruch in ſeiner Entſtehung auf. Die Eigenthümlichkeit iſt
nämlich zunächſt eine nur dieſem und keinem andern Individuum eigene Weiſe,
wie ſich die Kräfte der Gattung in ihm durchdringen; dieſe Durchdringung ſetzt
aber für ihre verſchlungene Einheit einen Reichthum von Kräften voraus, und
wo dieſer iſt, da werden allerdings die fehlenden vermißt, fällt alſo die Indi-
vidualität als ſolche im Unterſchied von der Gattung in die Augen, da erſcheint
aber ebenſoſehr die Gattung in einer Fülle von Kräften dargeſtellt, gewinnt
daher das Individuum allgemeine Bedeutung und ſticht dadurch von den ge-
wöhnlichen Individuen ab.

1. In der unorganiſchen und vegetabiliſchen Natur iſt das Einzelne
von ganz verſchwindender Bedeutung. Im Zuſammenhange der Aeſthetik
wird dies ſogleich dadurch klar, daß nicht vereinzelt eine Wolke, Erd-
bildung u. ſ. w. zur Darſtellung kommen kann; der Gegenſtand ſelbſt
läuft in dieſen Sphären in eine Continuität aus, worin das Einzelne ſich
nicht abſchneidet. Von mineraliſchen Gebilden wird an ſeinem Orte die Rede
ſeyn. Einzelne vegetabiliſche Bildungen, ein Baum z. B., werden wohl
auch bewundert und dargeſtellt, aber nie wird ein Maler einen Baum dar-
ſtellen dürfen ohne Luft, Erde, ein Stück Landſchaft, thieriſche oder menſch-
liche Staffage, während er doch ſehr wohl einen Menſchen abbilden kann ohne
irgend ein Beiwerk und mit einem bloſen Schatten als Hintergrund; ja wohl

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[137/0151] formten Stoffen, Luft, Waſſer, nährenden Pflanzen, Thieren u. ſ. w. iſt vorausgeſetzt, um dieſe Reife hervorzubringen. Allein jede Gattung bedarf ſolchen von andern Gattungen ſchon geformten Stoffes und nimmt durch denſelben nichts Fremdes und Trübendes in ſich auf, ſondern iſt mit der wohl geſchnittenen Stempelform zu vergleichen, welche dem ihr, wann und wo es ſey, gegebenen Stoffe ſcharf und beſtimmt ihre Form aufprägt. §. 48. Die unendliche Eigenheit der Individuen (§. 32) iſt auf denjenigen Stufen, wo die Idee nicht als Subjectivität wirklich iſt, von geringer Be- deutung, das Einzelne erſcheint nur als ſelbſtloſer Durchgang des Allgemeinen. Dagegen wo die Idee als Seele und höher als Geiſt wirkt, da ſteigt in dem Grade, in welchem ein Individuum das Allgemeine ſeiner Gattung in ſich darſtellt, die Eigenthümlichkeit und umgekehrt; weit entfernt, einander auszu- ſchließen, fordern ſich alſo vielmehr dieſe Gegenſätze und hebt ſich der in §. 38 aufgeſtellte Widerſpruch in ſeiner Entſtehung auf. Die Eigenthümlichkeit iſt nämlich zunächſt eine nur dieſem und keinem andern Individuum eigene Weiſe, wie ſich die Kräfte der Gattung in ihm durchdringen; dieſe Durchdringung ſetzt aber für ihre verſchlungene Einheit einen Reichthum von Kräften voraus, und wo dieſer iſt, da werden allerdings die fehlenden vermißt, fällt alſo die Indi- vidualität als ſolche im Unterſchied von der Gattung in die Augen, da erſcheint aber ebenſoſehr die Gattung in einer Fülle von Kräften dargeſtellt, gewinnt daher das Individuum allgemeine Bedeutung und ſticht dadurch von den ge- wöhnlichen Individuen ab. 1. In der unorganiſchen und vegetabiliſchen Natur iſt das Einzelne von ganz verſchwindender Bedeutung. Im Zuſammenhange der Aeſthetik wird dies ſogleich dadurch klar, daß nicht vereinzelt eine Wolke, Erd- bildung u. ſ. w. zur Darſtellung kommen kann; der Gegenſtand ſelbſt läuft in dieſen Sphären in eine Continuität aus, worin das Einzelne ſich nicht abſchneidet. Von mineraliſchen Gebilden wird an ſeinem Orte die Rede ſeyn. Einzelne vegetabiliſche Bildungen, ein Baum z. B., werden wohl auch bewundert und dargeſtellt, aber nie wird ein Maler einen Baum dar- ſtellen dürfen ohne Luft, Erde, ein Stück Landſchaft, thieriſche oder menſch- liche Staffage, während er doch ſehr wohl einen Menſchen abbilden kann ohne irgend ein Beiwerk und mit einem bloſen Schatten als Hintergrund; ja wohl

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/151>, abgerufen am 19.03.2024.