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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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liche. Hier tödtet der Regen die Pflanzen, hundert Stunden entfernt ist
er wohlthätig und ersehnt: das tröstet über jenes Uebel, aber es ist nicht
ästhetisch, denn ein schönes Werk kann nicht so entfernte Landschaften
zusammenfassen. Krankheit tödtet ein schönes Kind, Lebensernst und
Sammlung erwächst vielleicht daraus für leichtsinnige Eltern: aber damit
kann der Maler, der das Kind darstellen sollte, nichts anfangen.

Als vorläufiger Wink über die Art, wie die Kunst den Zufall be-
handelt, mag hier eine Stelle des Aristoteles stehen, welche zwar
Bedenken erregen mag, aber auch viel zu denken giebt (Poet. Cap. 9):
"wenn die Handlungen einander bedingen, wird mehr Bewunderung erregt,
als wenn sie sich von selbst und aus Zufall ereignen. Denn auch unter
den zufälligen Begebenheiten scheinen diejenigen am bewundernswürdigsten,
welche wie aus Absicht geschehen zu seyn scheinen; z. B. die Bildsäule
des Mitys in Argos erschlug den, welcher die Ursache seines Todes ge-
wesen war, indem sie auf ihn fiel, während er sie beschaute."

§. 53.

Da nun aber das Schöne nach §. 13 und 30 die reine Wirklichkeit der
Idee in einem begrenzten, daher überschaulichen einzelnen Wesen fordert, so
folgt, daß diese Aufhebung dieser Form der Zufälligkeit in der unendlichen
Ausdehnung und dem unendlichen Fortgange nicht genügt, sondern etwas ge-
schehen muß, wodurch der Schein einer Zusammenziehung dieses unendlichen
Flußes auf Einen Punkt erzeugt wird. Das Schöne kann nunmehr bestimmt
werden als eine Vorausnahme des vollkommenen Lebens oder des höchsten Guts
durch einen Schein. Das weitere System hat die Aufgabe, darzuthun, wodurch
dieser Schein zu Stande kommt; möglich aber ist er nur, wenn, was durch ihn
als Vorgang im Einzelnen dargestellt oder vorausgenommen wird, im unendlichen
Ganzen wirklich ist, und gefordert ist er durch das in §. 12 aufgestellte Gesetz.

In der Anm. braucht, da kein Grund ist, hier zu spannen und zu
überraschen wie in einem Roman, nicht verschwiegen zu werden, daß
dieser Act die That der Phantasie ist. Sie sistirt den unendlichen
Fluß und drängt ihn auf Einen Punkt zusammen, bannt ihn in die
Einzelheit und vollzieht so die große Antizipation, durch welche je auf
einem bestimmten Punkte vollendet erscheint, was nie und immer, nirgends
und überall sich vollendet. Sie dividirt das Unendliche der Vielheit
mit der Einfachheit des Geistes (vergl. hiezu Lessing Hamb. Dramat.

Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 10

liche. Hier tödtet der Regen die Pflanzen, hundert Stunden entfernt iſt
er wohlthätig und erſehnt: das tröſtet über jenes Uebel, aber es iſt nicht
äſthetiſch, denn ein ſchönes Werk kann nicht ſo entfernte Landſchaften
zuſammenfaſſen. Krankheit tödtet ein ſchönes Kind, Lebensernſt und
Sammlung erwächst vielleicht daraus für leichtſinnige Eltern: aber damit
kann der Maler, der das Kind darſtellen ſollte, nichts anfangen.

Als vorläufiger Wink über die Art, wie die Kunſt den Zufall be-
handelt, mag hier eine Stelle des Ariſtoteles ſtehen, welche zwar
Bedenken erregen mag, aber auch viel zu denken giebt (Poet. Cap. 9):
„wenn die Handlungen einander bedingen, wird mehr Bewunderung erregt,
als wenn ſie ſich von ſelbſt und aus Zufall ereignen. Denn auch unter
den zufälligen Begebenheiten ſcheinen diejenigen am bewundernswürdigſten,
welche wie aus Abſicht geſchehen zu ſeyn ſcheinen; z. B. die Bildſäule
des Mitys in Argos erſchlug den, welcher die Urſache ſeines Todes ge-
weſen war, indem ſie auf ihn fiel, während er ſie beſchaute.“

§. 53.

Da nun aber das Schöne nach §. 13 und 30 die reine Wirklichkeit der
Idee in einem begrenzten, daher überſchaulichen einzelnen Weſen fordert, ſo
folgt, daß dieſe Aufhebung dieſer Form der Zufälligkeit in der unendlichen
Ausdehnung und dem unendlichen Fortgange nicht genügt, ſondern etwas ge-
ſchehen muß, wodurch der Schein einer Zuſammenziehung dieſes unendlichen
Flußes auf Einen Punkt erzeugt wird. Das Schöne kann nunmehr beſtimmt
werden als eine Vorausnahme des vollkommenen Lebens oder des höchſten Guts
durch einen Schein. Das weitere Syſtem hat die Aufgabe, darzuthun, wodurch
dieſer Schein zu Stande kommt; möglich aber iſt er nur, wenn, was durch ihn
als Vorgang im Einzelnen dargeſtellt oder vorausgenommen wird, im unendlichen
Ganzen wirklich iſt, und gefordert iſt er durch das in §. 12 aufgeſtellte Geſetz.

In der Anm. braucht, da kein Grund iſt, hier zu ſpannen und zu
überraſchen wie in einem Roman, nicht verſchwiegen zu werden, daß
dieſer Act die That der Phantaſie iſt. Sie ſiſtirt den unendlichen
Fluß und drängt ihn auf Einen Punkt zuſammen, bannt ihn in die
Einzelheit und vollzieht ſo die große Antizipation, durch welche je auf
einem beſtimmten Punkte vollendet erſcheint, was nie und immer, nirgends
und überall ſich vollendet. Sie dividirt das Unendliche der Vielheit
mit der Einfachheit des Geiſtes (vergl. hiezu Leſſing Hamb. Dramat.

Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 10
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[145/0159] liche. Hier tödtet der Regen die Pflanzen, hundert Stunden entfernt iſt er wohlthätig und erſehnt: das tröſtet über jenes Uebel, aber es iſt nicht äſthetiſch, denn ein ſchönes Werk kann nicht ſo entfernte Landſchaften zuſammenfaſſen. Krankheit tödtet ein ſchönes Kind, Lebensernſt und Sammlung erwächst vielleicht daraus für leichtſinnige Eltern: aber damit kann der Maler, der das Kind darſtellen ſollte, nichts anfangen. Als vorläufiger Wink über die Art, wie die Kunſt den Zufall be- handelt, mag hier eine Stelle des Ariſtoteles ſtehen, welche zwar Bedenken erregen mag, aber auch viel zu denken giebt (Poet. Cap. 9): „wenn die Handlungen einander bedingen, wird mehr Bewunderung erregt, als wenn ſie ſich von ſelbſt und aus Zufall ereignen. Denn auch unter den zufälligen Begebenheiten ſcheinen diejenigen am bewundernswürdigſten, welche wie aus Abſicht geſchehen zu ſeyn ſcheinen; z. B. die Bildſäule des Mitys in Argos erſchlug den, welcher die Urſache ſeines Todes ge- weſen war, indem ſie auf ihn fiel, während er ſie beſchaute.“ §. 53. Da nun aber das Schöne nach §. 13 und 30 die reine Wirklichkeit der Idee in einem begrenzten, daher überſchaulichen einzelnen Weſen fordert, ſo folgt, daß dieſe Aufhebung dieſer Form der Zufälligkeit in der unendlichen Ausdehnung und dem unendlichen Fortgange nicht genügt, ſondern etwas ge- ſchehen muß, wodurch der Schein einer Zuſammenziehung dieſes unendlichen Flußes auf Einen Punkt erzeugt wird. Das Schöne kann nunmehr beſtimmt werden als eine Vorausnahme des vollkommenen Lebens oder des höchſten Guts durch einen Schein. Das weitere Syſtem hat die Aufgabe, darzuthun, wodurch dieſer Schein zu Stande kommt; möglich aber iſt er nur, wenn, was durch ihn als Vorgang im Einzelnen dargeſtellt oder vorausgenommen wird, im unendlichen Ganzen wirklich iſt, und gefordert iſt er durch das in §. 12 aufgeſtellte Geſetz. In der Anm. braucht, da kein Grund iſt, hier zu ſpannen und zu überraſchen wie in einem Roman, nicht verſchwiegen zu werden, daß dieſer Act die That der Phantaſie iſt. Sie ſiſtirt den unendlichen Fluß und drängt ihn auf Einen Punkt zuſammen, bannt ihn in die Einzelheit und vollzieht ſo die große Antizipation, durch welche je auf einem beſtimmten Punkte vollendet erſcheint, was nie und immer, nirgends und überall ſich vollendet. Sie dividirt das Unendliche der Vielheit mit der Einfachheit des Geiſtes (vergl. hiezu Leſſing Hamb. Dramat. Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 10

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/159>, abgerufen am 19.03.2024.