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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Abschn. 79, von den Worten: Man sage nicht u. s. w. Kant aber ist
es, der die Idee der Phantasie als einer verhüllten Division zuerst eigentlich
ausgesprochen hat Kr. d. ästh. Urtheilskr. §. 17. Dies wird an seinem
Orte entwickelt werden). Allein das Räthsel der Phantasie kann nicht
gefunden werden, wenn nicht zuerst metaphysisch entwickelt ist, wie hinter
ihrem Schein eine Wahrheit liegt, wie im großen Ganzen sich allerdings
verwirklicht, was sie als Einzelnes vorzaubert, -- oder: das Urbild kann
durch die Phantasie nicht in Eins zusammengezogen werden, wenn es nicht
außer ihr im unendlichen Ganzen wirklich ist und zwischen den Dingen
schwebend sich unabsehlich hindurchzieht. Die Phantasie schaut diesen
schwebenden Geist, wie ein geistreicher Leser zwischen den Linien liest.
Dieser objective Grund der Möglichkeit der Phantasie ist nun, nachdem
er §. 10 und 13 als Thesis aufgestellt war, entwickelt, es ist dargestellt,
warum das Schöne nicht leerer Schein, sondern Erscheinung ist; wir
wissen, was das Schöne leistet, und warum dies überhaupt geleistet
werden kann; aber die Kraft, wodurch es geleistet wird, haben wir noch
zu suchen, und zwar, wie sich zeigen wird, auf einem weiten Wege.

§. 54.

Da nun die Wirkung dieses Acts darin bestehen muß, daß das In-
dividuum jedem Zusammenhange entnommen erscheint, welcher die reine Gegen-
wart der Idee in ihm trübte, so darf die Gestalt desselben nicht nach ihrer
inneren Mischung und Structur, sondern nur nach der Totalwirkung derselben,
wie sie auf der Oberfläche erscheint, in Betracht kommen: nur diese, vom Durch-
messer abgelöst, nur der Aufriß, nicht der Durchschnitt. Es kommt nur darauf
an, wie der Körper aussieht, er ist umgewandelt in reinen Schein. So lange
nämlich diese Ablösung der auf der Oberfläche hervortretenden Gesammtwirkung
von den sie bedingenden Theilen der inneren Zusammensetzung nicht vorgenommen,
sondern der Körper als ein Zerlegbares betrachtet oder wirklich zerlegt wird,
so fällt er theils unter den Begriff der Zweckmäßigkeit, also einer abstracten
Kategorie (§. 16. 23), theils als empirischer Stoff in den Zusammenhang
der trübenden Zufälligkeit. Durch diesen Schein verewigt das Schöne erst wahr-
haft seinen Gegenstand.

Ueber dieses wichtige Moment vergl. die Schrift des Verf.: Ueber
das Erhabene und Komische, ein Beitrag zu der Philosophie des Schönen.
Auch Weiße hat dasselbe ausgesprochen (Aesth. §. 17. 18), aber nicht

Abſchn. 79, von den Worten: Man ſage nicht u. ſ. w. Kant aber iſt
es, der die Idee der Phantaſie als einer verhüllten Diviſion zuerſt eigentlich
ausgeſprochen hat Kr. d. äſth. Urtheilskr. §. 17. Dies wird an ſeinem
Orte entwickelt werden). Allein das Räthſel der Phantaſie kann nicht
gefunden werden, wenn nicht zuerſt metaphyſiſch entwickelt iſt, wie hinter
ihrem Schein eine Wahrheit liegt, wie im großen Ganzen ſich allerdings
verwirklicht, was ſie als Einzelnes vorzaubert, — oder: das Urbild kann
durch die Phantaſie nicht in Eins zuſammengezogen werden, wenn es nicht
außer ihr im unendlichen Ganzen wirklich iſt und zwiſchen den Dingen
ſchwebend ſich unabſehlich hindurchzieht. Die Phantaſie ſchaut dieſen
ſchwebenden Geiſt, wie ein geiſtreicher Leſer zwiſchen den Linien liest.
Dieſer objective Grund der Möglichkeit der Phantaſie iſt nun, nachdem
er §. 10 und 13 als Theſis aufgeſtellt war, entwickelt, es iſt dargeſtellt,
warum das Schöne nicht leerer Schein, ſondern Erſcheinung iſt; wir
wiſſen, was das Schöne leiſtet, und warum dies überhaupt geleiſtet
werden kann; aber die Kraft, wodurch es geleiſtet wird, haben wir noch
zu ſuchen, und zwar, wie ſich zeigen wird, auf einem weiten Wege.

§. 54.

Da nun die Wirkung dieſes Acts darin beſtehen muß, daß das In-
dividuum jedem Zuſammenhange entnommen erſcheint, welcher die reine Gegen-
wart der Idee in ihm trübte, ſo darf die Geſtalt desſelben nicht nach ihrer
inneren Miſchung und Structur, ſondern nur nach der Totalwirkung derſelben,
wie ſie auf der Oberfläche erſcheint, in Betracht kommen: nur dieſe, vom Durch-
meſſer abgelöst, nur der Aufriß, nicht der Durchſchnitt. Es kommt nur darauf
an, wie der Körper ausſieht, er iſt umgewandelt in reinen Schein. So lange
nämlich dieſe Ablöſung der auf der Oberfläche hervortretenden Geſammtwirkung
von den ſie bedingenden Theilen der inneren Zuſammenſetzung nicht vorgenommen,
ſondern der Körper als ein Zerlegbares betrachtet oder wirklich zerlegt wird,
ſo fällt er theils unter den Begriff der Zweckmäßigkeit, alſo einer abſtracten
Kategorie (§. 16. 23), theils als empiriſcher Stoff in den Zuſammenhang
der trübenden Zufälligkeit. Durch dieſen Schein verewigt das Schöne erſt wahr-
haft ſeinen Gegenſtand.

Ueber dieſes wichtige Moment vergl. die Schrift des Verf.: Ueber
das Erhabene und Komiſche, ein Beitrag zu der Philoſophie des Schönen.
Auch Weiße hat dasſelbe ausgeſprochen (Aeſth. §. 17. 18), aber nicht

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[146/0160] Abſchn. 79, von den Worten: Man ſage nicht u. ſ. w. Kant aber iſt es, der die Idee der Phantaſie als einer verhüllten Diviſion zuerſt eigentlich ausgeſprochen hat Kr. d. äſth. Urtheilskr. §. 17. Dies wird an ſeinem Orte entwickelt werden). Allein das Räthſel der Phantaſie kann nicht gefunden werden, wenn nicht zuerſt metaphyſiſch entwickelt iſt, wie hinter ihrem Schein eine Wahrheit liegt, wie im großen Ganzen ſich allerdings verwirklicht, was ſie als Einzelnes vorzaubert, — oder: das Urbild kann durch die Phantaſie nicht in Eins zuſammengezogen werden, wenn es nicht außer ihr im unendlichen Ganzen wirklich iſt und zwiſchen den Dingen ſchwebend ſich unabſehlich hindurchzieht. Die Phantaſie ſchaut dieſen ſchwebenden Geiſt, wie ein geiſtreicher Leſer zwiſchen den Linien liest. Dieſer objective Grund der Möglichkeit der Phantaſie iſt nun, nachdem er §. 10 und 13 als Theſis aufgeſtellt war, entwickelt, es iſt dargeſtellt, warum das Schöne nicht leerer Schein, ſondern Erſcheinung iſt; wir wiſſen, was das Schöne leiſtet, und warum dies überhaupt geleiſtet werden kann; aber die Kraft, wodurch es geleiſtet wird, haben wir noch zu ſuchen, und zwar, wie ſich zeigen wird, auf einem weiten Wege. §. 54. Da nun die Wirkung dieſes Acts darin beſtehen muß, daß das In- dividuum jedem Zuſammenhange entnommen erſcheint, welcher die reine Gegen- wart der Idee in ihm trübte, ſo darf die Geſtalt desſelben nicht nach ihrer inneren Miſchung und Structur, ſondern nur nach der Totalwirkung derſelben, wie ſie auf der Oberfläche erſcheint, in Betracht kommen: nur dieſe, vom Durch- meſſer abgelöst, nur der Aufriß, nicht der Durchſchnitt. Es kommt nur darauf an, wie der Körper ausſieht, er iſt umgewandelt in reinen Schein. So lange nämlich dieſe Ablöſung der auf der Oberfläche hervortretenden Geſammtwirkung von den ſie bedingenden Theilen der inneren Zuſammenſetzung nicht vorgenommen, ſondern der Körper als ein Zerlegbares betrachtet oder wirklich zerlegt wird, ſo fällt er theils unter den Begriff der Zweckmäßigkeit, alſo einer abſtracten Kategorie (§. 16. 23), theils als empiriſcher Stoff in den Zuſammenhang der trübenden Zufälligkeit. Durch dieſen Schein verewigt das Schöne erſt wahr- haft ſeinen Gegenſtand. Ueber dieſes wichtige Moment vergl. die Schrift des Verf.: Ueber das Erhabene und Komiſche, ein Beitrag zu der Philoſophie des Schönen. Auch Weiße hat dasſelbe ausgeſprochen (Aeſth. §. 17. 18), aber nicht

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/160>, abgerufen am 19.03.2024.