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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Kräfte des Guten in ihrer Verkehrung selbst fortwirken, noch der Kampf
für das Gute als abstracter Wille ohne Natur und Leidenschaft. Davon
weiß zwar die Ethik auch, aber sie hat im Ernste des Kampfes nicht Zeit,
von ihrem Wissen die Anwendung zu machen, daß ebendarum der Kampf
selbst schön aussehen muß, was eben das Wesen des Schönen fordert. Die
Ethik wird im gemeinsten Verbrecher einen Rest des Guten finden und seine
Besserung daran knüpfen; das Schöne aber kann einen solchen in seiner
Gedrücktheit nicht einführen, weil dieser Funke zu schwach ist, um aus
dem Aeußern hervorzuleuchten; wenn dagegen im Schönen ein Verbrecher
auftritt, der mit gewaltigeren Kräften ausgestattet grausende Bewunderung
einflößt, so fürchtet der blos ethische Standpunkt, es werde dadurch die
Verkehrtheit dieser Kräfte außer Augen gelassen. Kämpft der gute Wille
gegen die Verirrung, so ist der Ethik nicht unbekannt, daß das Feuer der
Natur ihm zu Hülfe kommen muß, aber sie beschäftigt sich nicht damit,
daß ebendarum sein Thun auch nach außen ein schönes Schauspiel gewähren
muß, denn sie sieht nur auf die Sache, nicht auf den Schein.

3. Dante's Paradies, Natalie im Wilh. Meister haben zu wenig
Schatten. Die sittliche Harmonie als Resultat interessirt gerade darum
im Schönen weniger, als im Guten, weil sie dort unverlierbar durch das
Ganze schwebt, während sie hier als Ziel ausdrücklich gesucht und hingestellt
wird. Das Schöne verweilt nicht dabei als einer besonderen, bleibenden
Form; der Standpunkt des Guten beschreibt ausführlich das Ideal der
Tugend und das höchste Gut, gerade weil er die Vollendung, ob zwar
metaphysisch ihres ewigen Sieges gewiß, von dem ethischen Grundbegriffe
der Thätigkeit aus als stetes Ziel des Strebens in deutlichen Zügen hin-
stellen muß.

§. 61.

Nunmehr findet auch der Unterschied der Schönheit von der Religion
(vergl. §. 26) seine Erledigung. Die Formgebung, welche die absolute Idee
durch die Religion erhält (§. 24. 25. 27.) ist in dieser wesentlich anders be-
stimmt, als im Schönen. In der Religion als der ersten Sphäre des absoluten
Geistes erlöschen die Gegensätze der Endlichkeit, aus denen der Geist her-
kommt, zur unterschiedslosen Unmittelbarkeit des Gefühls. Das Ich versenkt
sich in das schlechthin Allgemeine. Dieses sich Versenken ist eine Bewegung
und als solche setzt es eine Unterscheidung voraus zwischen dem, was sich, und
zwischen dem, wohin es sich versenkt. Jenes ist das Ich, das sich müde fühlt

Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 11

Kräfte des Guten in ihrer Verkehrung ſelbſt fortwirken, noch der Kampf
für das Gute als abſtracter Wille ohne Natur und Leidenſchaft. Davon
weiß zwar die Ethik auch, aber ſie hat im Ernſte des Kampfes nicht Zeit,
von ihrem Wiſſen die Anwendung zu machen, daß ebendarum der Kampf
ſelbſt ſchön ausſehen muß, was eben das Weſen des Schönen fordert. Die
Ethik wird im gemeinſten Verbrecher einen Reſt des Guten finden und ſeine
Beſſerung daran knüpfen; das Schöne aber kann einen ſolchen in ſeiner
Gedrücktheit nicht einführen, weil dieſer Funke zu ſchwach iſt, um aus
dem Aeußern hervorzuleuchten; wenn dagegen im Schönen ein Verbrecher
auftritt, der mit gewaltigeren Kräften ausgeſtattet grauſende Bewunderung
einflößt, ſo fürchtet der blos ethiſche Standpunkt, es werde dadurch die
Verkehrtheit dieſer Kräfte außer Augen gelaſſen. Kämpft der gute Wille
gegen die Verirrung, ſo iſt der Ethik nicht unbekannt, daß das Feuer der
Natur ihm zu Hülfe kommen muß, aber ſie beſchäftigt ſich nicht damit,
daß ebendarum ſein Thun auch nach außen ein ſchönes Schauſpiel gewähren
muß, denn ſie ſieht nur auf die Sache, nicht auf den Schein.

3. Dante’s Paradies, Natalie im Wilh. Meiſter haben zu wenig
Schatten. Die ſittliche Harmonie als Reſultat intereſſirt gerade darum
im Schönen weniger, als im Guten, weil ſie dort unverlierbar durch das
Ganze ſchwebt, während ſie hier als Ziel ausdrücklich geſucht und hingeſtellt
wird. Das Schöne verweilt nicht dabei als einer beſonderen, bleibenden
Form; der Standpunkt des Guten beſchreibt ausführlich das Ideal der
Tugend und das höchſte Gut, gerade weil er die Vollendung, ob zwar
metaphyſiſch ihres ewigen Sieges gewiß, von dem ethiſchen Grundbegriffe
der Thätigkeit aus als ſtetes Ziel des Strebens in deutlichen Zügen hin-
ſtellen muß.

§. 61.

Nunmehr findet auch der Unterſchied der Schönheit von der Religion
(vergl. §. 26) ſeine Erledigung. Die Formgebung, welche die abſolute Idee
durch die Religion erhält (§. 24. 25. 27.) iſt in dieſer weſentlich anders be-
ſtimmt, als im Schönen. In der Religion als der erſten Sphäre des abſoluten
Geiſtes erlöſchen die Gegenſätze der Endlichkeit, aus denen der Geiſt her-
kommt, zur unterſchiedsloſen Unmittelbarkeit des Gefühls. Das Ich verſenkt
ſich in das ſchlechthin Allgemeine. Dieſes ſich Verſenken iſt eine Bewegung
und als ſolche ſetzt es eine Unterſcheidung voraus zwiſchen dem, was ſich, und
zwiſchen dem, wohin es ſich verſenkt. Jenes iſt das Ich, das ſich müde fühlt

Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 11
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[161/0175] Kräfte des Guten in ihrer Verkehrung ſelbſt fortwirken, noch der Kampf für das Gute als abſtracter Wille ohne Natur und Leidenſchaft. Davon weiß zwar die Ethik auch, aber ſie hat im Ernſte des Kampfes nicht Zeit, von ihrem Wiſſen die Anwendung zu machen, daß ebendarum der Kampf ſelbſt ſchön ausſehen muß, was eben das Weſen des Schönen fordert. Die Ethik wird im gemeinſten Verbrecher einen Reſt des Guten finden und ſeine Beſſerung daran knüpfen; das Schöne aber kann einen ſolchen in ſeiner Gedrücktheit nicht einführen, weil dieſer Funke zu ſchwach iſt, um aus dem Aeußern hervorzuleuchten; wenn dagegen im Schönen ein Verbrecher auftritt, der mit gewaltigeren Kräften ausgeſtattet grauſende Bewunderung einflößt, ſo fürchtet der blos ethiſche Standpunkt, es werde dadurch die Verkehrtheit dieſer Kräfte außer Augen gelaſſen. Kämpft der gute Wille gegen die Verirrung, ſo iſt der Ethik nicht unbekannt, daß das Feuer der Natur ihm zu Hülfe kommen muß, aber ſie beſchäftigt ſich nicht damit, daß ebendarum ſein Thun auch nach außen ein ſchönes Schauſpiel gewähren muß, denn ſie ſieht nur auf die Sache, nicht auf den Schein. 3. Dante’s Paradies, Natalie im Wilh. Meiſter haben zu wenig Schatten. Die ſittliche Harmonie als Reſultat intereſſirt gerade darum im Schönen weniger, als im Guten, weil ſie dort unverlierbar durch das Ganze ſchwebt, während ſie hier als Ziel ausdrücklich geſucht und hingeſtellt wird. Das Schöne verweilt nicht dabei als einer beſonderen, bleibenden Form; der Standpunkt des Guten beſchreibt ausführlich das Ideal der Tugend und das höchſte Gut, gerade weil er die Vollendung, ob zwar metaphyſiſch ihres ewigen Sieges gewiß, von dem ethiſchen Grundbegriffe der Thätigkeit aus als ſtetes Ziel des Strebens in deutlichen Zügen hin- ſtellen muß. §. 61. Nunmehr findet auch der Unterſchied der Schönheit von der Religion (vergl. §. 26) ſeine Erledigung. Die Formgebung, welche die abſolute Idee durch die Religion erhält (§. 24. 25. 27.) iſt in dieſer weſentlich anders be- ſtimmt, als im Schönen. In der Religion als der erſten Sphäre des abſoluten Geiſtes erlöſchen die Gegenſätze der Endlichkeit, aus denen der Geiſt her- kommt, zur unterſchiedsloſen Unmittelbarkeit des Gefühls. Das Ich verſenkt ſich in das ſchlechthin Allgemeine. Dieſes ſich Verſenken iſt eine Bewegung und als ſolche ſetzt es eine Unterſcheidung voraus zwiſchen dem, was ſich, und zwiſchen dem, wohin es ſich verſenkt. Jenes iſt das Ich, das ſich müde fühlt Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 11

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/175>, abgerufen am 19.03.2024.