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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Dies Hinüberzeichnen ist es, was Hegel die Vorstellung nennt. Die
Zeichnung ist aber schwach und zerfließend, denn das Gefühl bleibt das
Bestimmende.

§. 62.

Jede der zwei nun unterschiedenen Seiten ist wieder das Ganze. Das
Ich, das sich zum schlechthin Allgemeinen bewegen soll, schließt dieses, aber
als blose Möglichkeit, in sich und da es durch die Sphäre der wirklichen be-
stimmten Idee, weil es dieselbe noch nicht als die vernünftige totale Wirklich-
keit des schlechthin Allgemeinen begreift, in der Entwicklung dieser Möglich-
keit sich gestört fühlt, so verwirft es sie als eine Scheinwelt, sie wird als
negativ gesetzt, das Ich soll sich vom sinnlichen Scheine lossagen. Die Seite
des Allgemeinen aber enthält auch das Ich, und zwar angeblich zunächst als
ein versöhntes, indem das Ich seine Versöhnung als schon vollzogen in dasselbe
hinüberträgt. Aber nicht ebenso wird das ganze Reich der bestimmten Idee
in das schlechthin Allgemeine vorstellend hinübergetragen, sondern nur ober-
flächlich und mit Ueberspringung aller andern werden einzelne Momente der
wirklichen Idee, und zwar insbesondere aus der Sphäre des selbstbewußten,
sittlichen Lebens in das Allgemeine hinübergetragen. Hieraus schafft die Vor-
stellung einen Kreis von überirdischen Gestalten, deren das Gefühl zum An-
halte für die versöhnende Bewegung von seiner Seite bedarf. Dieser Kreis ist
unvollständig, weil nicht das ganze Leben der Idee in ihm zur Vorstellung
kommt; ferner ist in den Gestalten dieses Kreises durch jene Art der Voraus-
nahme der Versöhnung das Wirkliche überhaupt und das Subject, sey es nun
einfach seine Sinnlichkeit oder näher die Eigenheit seiner Individualität, welcher
die Bejahung gilt, zwar positiv gesetzt, in allen Gestalten auf der Seite der
gegenwärtigen Wirklichkeit aber ist es negativ gesetzt, von jener Verklärung
ausgeschlossen und demselben Mißtrauen unterworfen, wie auf dem ethischen Stand-
punkte. Die Religion schafft eine Reihe bevorzugter Gestalten und schließt alle
andern aus; sie ist im ästhetischen Sinne erclusiv, eine Aristokratie der Gestalt.

Der Inhalt dieses §. konnte aufgeführt werden, ohne einem späteren
Abschnitte, wo die Religion in bestimmtem geschichtlichem Zusammenhange
mit der ästhetischen Phantasie auftritt, zu sehr vorzugreifen. Die untersten
Formen der Religion, welche das schlechthin Allgemeine unmittelbar mit
einem sinnlichen Dinge ohne schöpferisch bildende Zuthat der Vorstellung
verwechseln, sind hier nicht berücksichtigt; man wird aber auch streng ge-
nommen gar keine Religion aufweisen können, welche blos in dieser

Dies Hinüberzeichnen iſt es, was Hegel die Vorſtellung nennt. Die
Zeichnung iſt aber ſchwach und zerfließend, denn das Gefühl bleibt das
Beſtimmende.

§. 62.

Jede der zwei nun unterſchiedenen Seiten iſt wieder das Ganze. Das
Ich, das ſich zum ſchlechthin Allgemeinen bewegen ſoll, ſchließt dieſes, aber
als bloſe Möglichkeit, in ſich und da es durch die Sphäre der wirklichen be-
ſtimmten Idee, weil es dieſelbe noch nicht als die vernünftige totale Wirklich-
keit des ſchlechthin Allgemeinen begreift, in der Entwicklung dieſer Möglich-
keit ſich geſtört fühlt, ſo verwirft es ſie als eine Scheinwelt, ſie wird als
negativ geſetzt, das Ich ſoll ſich vom ſinnlichen Scheine losſagen. Die Seite
des Allgemeinen aber enthält auch das Ich, und zwar angeblich zunächſt als
ein verſöhntes, indem das Ich ſeine Verſöhnung als ſchon vollzogen in dasſelbe
hinüberträgt. Aber nicht ebenſo wird das ganze Reich der beſtimmten Idee
in das ſchlechthin Allgemeine vorſtellend hinübergetragen, ſondern nur ober-
flächlich und mit Ueberſpringung aller andern werden einzelne Momente der
wirklichen Idee, und zwar insbeſondere aus der Sphäre des ſelbſtbewußten,
ſittlichen Lebens in das Allgemeine hinübergetragen. Hieraus ſchafft die Vor-
ſtellung einen Kreis von überirdiſchen Geſtalten, deren das Gefühl zum An-
halte für die verſöhnende Bewegung von ſeiner Seite bedarf. Dieſer Kreis iſt
unvollſtändig, weil nicht das ganze Leben der Idee in ihm zur Vorſtellung
kommt; ferner iſt in den Geſtalten dieſes Kreiſes durch jene Art der Voraus-
nahme der Verſöhnung das Wirkliche überhaupt und das Subject, ſey es nun
einfach ſeine Sinnlichkeit oder näher die Eigenheit ſeiner Individualität, welcher
die Bejahung gilt, zwar poſitiv geſetzt, in allen Geſtalten auf der Seite der
gegenwärtigen Wirklichkeit aber iſt es negativ geſetzt, von jener Verklärung
ausgeſchloſſen und demſelben Mißtrauen unterworfen, wie auf dem ethiſchen Stand-
punkte. Die Religion ſchafft eine Reihe bevorzugter Geſtalten und ſchließt alle
andern aus; ſie iſt im äſthetiſchen Sinne ercluſiv, eine Ariſtokratie der Geſtalt.

Der Inhalt dieſes §. konnte aufgeführt werden, ohne einem ſpäteren
Abſchnitte, wo die Religion in beſtimmtem geſchichtlichem Zuſammenhange
mit der äſthetiſchen Phantaſie auftritt, zu ſehr vorzugreifen. Die unterſten
Formen der Religion, welche das ſchlechthin Allgemeine unmittelbar mit
einem ſinnlichen Dinge ohne ſchöpferiſch bildende Zuthat der Vorſtellung
verwechſeln, ſind hier nicht berückſichtigt; man wird aber auch ſtreng ge-
nommen gar keine Religion aufweiſen können, welche blos in dieſer

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[164/0178] Dies Hinüberzeichnen iſt es, was Hegel die Vorſtellung nennt. Die Zeichnung iſt aber ſchwach und zerfließend, denn das Gefühl bleibt das Beſtimmende. §. 62. Jede der zwei nun unterſchiedenen Seiten iſt wieder das Ganze. Das Ich, das ſich zum ſchlechthin Allgemeinen bewegen ſoll, ſchließt dieſes, aber als bloſe Möglichkeit, in ſich und da es durch die Sphäre der wirklichen be- ſtimmten Idee, weil es dieſelbe noch nicht als die vernünftige totale Wirklich- keit des ſchlechthin Allgemeinen begreift, in der Entwicklung dieſer Möglich- keit ſich geſtört fühlt, ſo verwirft es ſie als eine Scheinwelt, ſie wird als negativ geſetzt, das Ich ſoll ſich vom ſinnlichen Scheine losſagen. Die Seite des Allgemeinen aber enthält auch das Ich, und zwar angeblich zunächſt als ein verſöhntes, indem das Ich ſeine Verſöhnung als ſchon vollzogen in dasſelbe hinüberträgt. Aber nicht ebenſo wird das ganze Reich der beſtimmten Idee in das ſchlechthin Allgemeine vorſtellend hinübergetragen, ſondern nur ober- flächlich und mit Ueberſpringung aller andern werden einzelne Momente der wirklichen Idee, und zwar insbeſondere aus der Sphäre des ſelbſtbewußten, ſittlichen Lebens in das Allgemeine hinübergetragen. Hieraus ſchafft die Vor- ſtellung einen Kreis von überirdiſchen Geſtalten, deren das Gefühl zum An- halte für die verſöhnende Bewegung von ſeiner Seite bedarf. Dieſer Kreis iſt unvollſtändig, weil nicht das ganze Leben der Idee in ihm zur Vorſtellung kommt; ferner iſt in den Geſtalten dieſes Kreiſes durch jene Art der Voraus- nahme der Verſöhnung das Wirkliche überhaupt und das Subject, ſey es nun einfach ſeine Sinnlichkeit oder näher die Eigenheit ſeiner Individualität, welcher die Bejahung gilt, zwar poſitiv geſetzt, in allen Geſtalten auf der Seite der gegenwärtigen Wirklichkeit aber iſt es negativ geſetzt, von jener Verklärung ausgeſchloſſen und demſelben Mißtrauen unterworfen, wie auf dem ethiſchen Stand- punkte. Die Religion ſchafft eine Reihe bevorzugter Geſtalten und ſchließt alle andern aus; ſie iſt im äſthetiſchen Sinne ercluſiv, eine Ariſtokratie der Geſtalt. Der Inhalt dieſes §. konnte aufgeführt werden, ohne einem ſpäteren Abſchnitte, wo die Religion in beſtimmtem geſchichtlichem Zuſammenhange mit der äſthetiſchen Phantaſie auftritt, zu ſehr vorzugreifen. Die unterſten Formen der Religion, welche das ſchlechthin Allgemeine unmittelbar mit einem ſinnlichen Dinge ohne ſchöpferiſch bildende Zuthat der Vorſtellung verwechſeln, ſind hier nicht berückſichtigt; man wird aber auch ſtreng ge- nommen gar keine Religion aufweiſen können, welche blos in dieſer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/178>, abgerufen am 19.03.2024.