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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 64.

1

Die Vorstellung ist Vehikel für den in der Form des Gefühls sich
bewegenden Versöhnungsprozeß des Geistes. Diesem Zwecke genügt aber sowohl
in der inneren Vorstellung, als in der wirklichen sinnlichen Anschauung selbst
das dürftige und rohe Bild, denn es reicht hin, den Geist an sich und seine
Bestimmung zu erinnern, ja es kann diesem Zwecke sogar ein ästhetisch ganz
abstoßendes Werk besser dienen, als ein schönes. Daher verfährt auch der
Cultus mit den zu seinem Gebrauch bestimmten Leistungen der Schönheit häufig
2auf rücksichtslose Weise und zwar von seinem Standpunkte mit Recht. Je tiefer
aber das Negative in jenem Prozesse von einer Religion gefaßt wird, um so
weniger ist es ihr um die äußere Anschauung des Vorgestellten zu thun und
diese Gleichgültigkeit kann, da sie von derselben Zerstreuung, ja Götzendienst
zu befürchten hat, in Haß und Zerstörung übergehen.

1. Das Bild mit ascetischem Ausdrucke, wovon der vorhergehende §.
spricht, kann dennoch deutlich vorgestellt oder mit Vollkommenheit äußerlich
dargestellt seyn. Allein dies bedarf die Religion als solche nicht; die
undeutliche innere und die rohe äußere Darstellung genügt ihr, weil das
Bild bloses Vehikel, das Interesse ein praktisches bleibt. Dies Interesse
geht durchaus nicht auf die reine Form als solche; das Bild soll den
Andächtigen in das Gefühl seiner Unwürdigkeit und der unverdienten
Gnade zurückwerfen: eine Andeutung mit derben Strichen ist dazu hin-
reichend. Ein Christusbild z. B., roh gearbeitet, mit Blutstriemen bedeckt,
graß, aber Mitleid erregend scheint ihm zu sagen: dies Alles habe ich
um dich gelitten! Gern verbindet sich Rohheit der Ausführung mit
ästhetisch abstoßender Natur des Gegenstandes, doch tritt die letztere, welche
von der erwähnten Strenge und Düsterheit noch wohl zu unterscheiden
ist, auch mit höherer Kunstfertigkeit in Verbindung. Die religiöse Kunst
der christlichen Kirche hat zu jeder Zeit, weil der Standpunkt nicht
ästhetisch war, neben den würdigsten die peinlichsten Dinge dargestellt, selbst
große Meister haben, wie es eben gerade kam, bald diese bald jene
behandelt. Ja das rohe und das häßliche Bild dient besser, als das schöne;
denn es führt den Geist nicht hinaus in die Fülle der Welt, wo er sich
in seiner Freiheit genießt, sondern wirft ihn mit herbem Stoß in sich
zurück. Dieses besondere Interesse des Cultus ist der zweite Grund, warum
schon den Griechen die rohen und finsteren Götterbilder der alten Kunst
für göttlicher galten, als die anmuthsvollen der neueren. Daher auch

§. 64.

1

Die Vorſtellung iſt Vehikel für den in der Form des Gefühls ſich
bewegenden Verſöhnungsprozeß des Geiſtes. Dieſem Zwecke genügt aber ſowohl
in der inneren Vorſtellung, als in der wirklichen ſinnlichen Anſchauung ſelbſt
das dürftige und rohe Bild, denn es reicht hin, den Geiſt an ſich und ſeine
Beſtimmung zu erinnern, ja es kann dieſem Zwecke ſogar ein äſthetiſch ganz
abſtoßendes Werk beſſer dienen, als ein ſchönes. Daher verfährt auch der
Cultus mit den zu ſeinem Gebrauch beſtimmten Leiſtungen der Schönheit häufig
2auf rückſichtsloſe Weiſe und zwar von ſeinem Standpunkte mit Recht. Je tiefer
aber das Negative in jenem Prozeſſe von einer Religion gefaßt wird, um ſo
weniger iſt es ihr um die äußere Anſchauung des Vorgeſtellten zu thun und
dieſe Gleichgültigkeit kann, da ſie von derſelben Zerſtreuung, ja Götzendienſt
zu befürchten hat, in Haß und Zerſtörung übergehen.

1. Das Bild mit aſcetiſchem Ausdrucke, wovon der vorhergehende §.
ſpricht, kann dennoch deutlich vorgeſtellt oder mit Vollkommenheit äußerlich
dargeſtellt ſeyn. Allein dies bedarf die Religion als ſolche nicht; die
undeutliche innere und die rohe äußere Darſtellung genügt ihr, weil das
Bild bloſes Vehikel, das Intereſſe ein praktiſches bleibt. Dies Intereſſe
geht durchaus nicht auf die reine Form als ſolche; das Bild ſoll den
Andächtigen in das Gefühl ſeiner Unwürdigkeit und der unverdienten
Gnade zurückwerfen: eine Andeutung mit derben Strichen iſt dazu hin-
reichend. Ein Chriſtusbild z. B., roh gearbeitet, mit Blutſtriemen bedeckt,
graß, aber Mitleid erregend ſcheint ihm zu ſagen: dies Alles habe ich
um dich gelitten! Gern verbindet ſich Rohheit der Ausführung mit
äſthetiſch abſtoßender Natur des Gegenſtandes, doch tritt die letztere, welche
von der erwähnten Strenge und Düſterheit noch wohl zu unterſcheiden
iſt, auch mit höherer Kunſtfertigkeit in Verbindung. Die religiöſe Kunſt
der chriſtlichen Kirche hat zu jeder Zeit, weil der Standpunkt nicht
äſthetiſch war, neben den würdigſten die peinlichſten Dinge dargeſtellt, ſelbſt
große Meiſter haben, wie es eben gerade kam, bald dieſe bald jene
behandelt. Ja das rohe und das häßliche Bild dient beſſer, als das ſchöne;
denn es führt den Geiſt nicht hinaus in die Fülle der Welt, wo er ſich
in ſeiner Freiheit genießt, ſondern wirft ihn mit herbem Stoß in ſich
zurück. Dieſes beſondere Intereſſe des Cultus iſt der zweite Grund, warum
ſchon den Griechen die rohen und finſteren Götterbilder der alten Kunſt
für göttlicher galten, als die anmuthsvollen der neueren. Daher auch

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[168/0182] §. 64. Die Vorſtellung iſt Vehikel für den in der Form des Gefühls ſich bewegenden Verſöhnungsprozeß des Geiſtes. Dieſem Zwecke genügt aber ſowohl in der inneren Vorſtellung, als in der wirklichen ſinnlichen Anſchauung ſelbſt das dürftige und rohe Bild, denn es reicht hin, den Geiſt an ſich und ſeine Beſtimmung zu erinnern, ja es kann dieſem Zwecke ſogar ein äſthetiſch ganz abſtoßendes Werk beſſer dienen, als ein ſchönes. Daher verfährt auch der Cultus mit den zu ſeinem Gebrauch beſtimmten Leiſtungen der Schönheit häufig auf rückſichtsloſe Weiſe und zwar von ſeinem Standpunkte mit Recht. Je tiefer aber das Negative in jenem Prozeſſe von einer Religion gefaßt wird, um ſo weniger iſt es ihr um die äußere Anſchauung des Vorgeſtellten zu thun und dieſe Gleichgültigkeit kann, da ſie von derſelben Zerſtreuung, ja Götzendienſt zu befürchten hat, in Haß und Zerſtörung übergehen. 1. Das Bild mit aſcetiſchem Ausdrucke, wovon der vorhergehende §. ſpricht, kann dennoch deutlich vorgeſtellt oder mit Vollkommenheit äußerlich dargeſtellt ſeyn. Allein dies bedarf die Religion als ſolche nicht; die undeutliche innere und die rohe äußere Darſtellung genügt ihr, weil das Bild bloſes Vehikel, das Intereſſe ein praktiſches bleibt. Dies Intereſſe geht durchaus nicht auf die reine Form als ſolche; das Bild ſoll den Andächtigen in das Gefühl ſeiner Unwürdigkeit und der unverdienten Gnade zurückwerfen: eine Andeutung mit derben Strichen iſt dazu hin- reichend. Ein Chriſtusbild z. B., roh gearbeitet, mit Blutſtriemen bedeckt, graß, aber Mitleid erregend ſcheint ihm zu ſagen: dies Alles habe ich um dich gelitten! Gern verbindet ſich Rohheit der Ausführung mit äſthetiſch abſtoßender Natur des Gegenſtandes, doch tritt die letztere, welche von der erwähnten Strenge und Düſterheit noch wohl zu unterſcheiden iſt, auch mit höherer Kunſtfertigkeit in Verbindung. Die religiöſe Kunſt der chriſtlichen Kirche hat zu jeder Zeit, weil der Standpunkt nicht äſthetiſch war, neben den würdigſten die peinlichſten Dinge dargeſtellt, ſelbſt große Meiſter haben, wie es eben gerade kam, bald dieſe bald jene behandelt. Ja das rohe und das häßliche Bild dient beſſer, als das ſchöne; denn es führt den Geiſt nicht hinaus in die Fülle der Welt, wo er ſich in ſeiner Freiheit genießt, ſondern wirft ihn mit herbem Stoß in ſich zurück. Dieſes beſondere Intereſſe des Cultus iſt der zweite Grund, warum ſchon den Griechen die rohen und finſteren Götterbilder der alten Kunſt für göttlicher galten, als die anmuthsvollen der neueren. Daher auch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/182>, abgerufen am 19.03.2024.