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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Göttergestalt so wenig auf, als sich selbst, und wird, wenn man ihm daran rührt,
böse. Der Schein in der Religion ist ein unfreier.

Der Unterschied zwischen Religion und Schönheit, wie er in §. 26
schon angekündigt ist, bestimmt sich also jetzt als ein Unterschied des ver-
wechselnden oder unfreien und des freien Scheins. Sucht die Wissenschaft
die dargestellte Verwechslung, die nur um so zäher ist, je mehr sie sich
in's Innere zurückzieht, zu lösen, so kommt alsbald an den Tag, daß der
Gott das anbetende Subject selbst ist, denn es nimmt den Versuch als
die schwerste persönliche Beleidigung auf und behandelt die Frage als
seine eigene Existenzfrage.

§. 66.

Der Schein im Schönen dagegen ist dadurch ein freier, daß die Schönheit
den Gehalt, wie sie ihn zunächst aus der Hand der Religion erhält, völlig in
die reine Form herausbildet: er wird dadurch zum reinen, in der Unendlichkeit
des Ausdrucks zugleich begrenzten Gegenstande, und während in der religiösen
Vorstellung durch jenes undeutliche Zeichnen (§. 61) mit den verschwimmenden
Umrissen des inneren Bildes auch der Inhalt in Eins verschwimmt, so kann
nun das so Begrenzte nicht mehr mit dem Absoluten verwechselt werden. Das
Subject ahnt und ergreift zwar in der so dargestellten Idee das All
und sich; aber es kann nicht mehr meinen, daß der Gegenstand dieses All
unmittelbar wirklich sey. Durch diese Befreiung des Bewußtseyns aus jenem
Verwachsenseyn und jener Verwechslung wird die Schönheit die vorbereitende
Bildungsstufe für den Geist, der als denkender allen Schein auflöst.

Dieser §. ist Ergänzung zu §. 63. Das Schöne ist frei und befreit.
Wenn hier schon vom Künstler die Rede wäre, so dürfte zum Beweise
dieses Satzes nur an die Wahrheit erinnert werden, daß derselbe sich einen
Affect, mit dem er unfrei verwachsen war, indem er ihn objectivirt,
von der Seele löst. Man denke an bekannte Geständnisse Göthes. Wir
stehen jedoch hier in der Religion und haben es mit dem religiösen
Bewußtseyn zu thun, das sich seinen Gehalt vom Künstler in der Form
der Schönheit zurückgeben läßt, in der Meinung, darin den Triumph seines
Glaubens zu besitzen. Allein das schöne Werk hat die undeutliche Vor-
stellung deutlich gemacht, die verschwimmenden Umrisse geschärft; es steht
jetzt ein unverkennbar Einzelnes vor mir. Dieses Einzelne ist zwar durch-
drungen von unendlicher Bedeutung, und in diese Bedeutung ist auch

Göttergeſtalt ſo wenig auf, als ſich ſelbſt, und wird, wenn man ihm daran rührt,
böſe. Der Schein in der Religion iſt ein unfreier.

Der Unterſchied zwiſchen Religion und Schönheit, wie er in §. 26
ſchon angekündigt iſt, beſtimmt ſich alſo jetzt als ein Unterſchied des ver-
wechſelnden oder unfreien und des freien Scheins. Sucht die Wiſſenſchaft
die dargeſtellte Verwechslung, die nur um ſo zäher iſt, je mehr ſie ſich
in’s Innere zurückzieht, zu löſen, ſo kommt alsbald an den Tag, daß der
Gott das anbetende Subject ſelbſt iſt, denn es nimmt den Verſuch als
die ſchwerſte perſönliche Beleidigung auf und behandelt die Frage als
ſeine eigene Exiſtenzfrage.

§. 66.

Der Schein im Schönen dagegen iſt dadurch ein freier, daß die Schönheit
den Gehalt, wie ſie ihn zunächſt aus der Hand der Religion erhält, völlig in
die reine Form herausbildet: er wird dadurch zum reinen, in der Unendlichkeit
des Ausdrucks zugleich begrenzten Gegenſtande, und während in der religiöſen
Vorſtellung durch jenes undeutliche Zeichnen (§. 61) mit den verſchwimmenden
Umriſſen des inneren Bildes auch der Inhalt in Eins verſchwimmt, ſo kann
nun das ſo Begrenzte nicht mehr mit dem Abſoluten verwechſelt werden. Das
Subject ahnt und ergreift zwar in der ſo dargeſtellten Idee das All
und ſich; aber es kann nicht mehr meinen, daß der Gegenſtand dieſes All
unmittelbar wirklich ſey. Durch dieſe Befreiung des Bewußtſeyns aus jenem
Verwachſenſeyn und jener Verwechslung wird die Schönheit die vorbereitende
Bildungsſtufe für den Geiſt, der als denkender allen Schein auflöst.

Dieſer §. iſt Ergänzung zu §. 63. Das Schöne iſt frei und befreit.
Wenn hier ſchon vom Künſtler die Rede wäre, ſo dürfte zum Beweiſe
dieſes Satzes nur an die Wahrheit erinnert werden, daß derſelbe ſich einen
Affect, mit dem er unfrei verwachſen war, indem er ihn objectivirt,
von der Seele löst. Man denke an bekannte Geſtändniſſe Göthes. Wir
ſtehen jedoch hier in der Religion und haben es mit dem religiöſen
Bewußtſeyn zu thun, das ſich ſeinen Gehalt vom Künſtler in der Form
der Schönheit zurückgeben läßt, in der Meinung, darin den Triumph ſeines
Glaubens zu beſitzen. Allein das ſchöne Werk hat die undeutliche Vor-
ſtellung deutlich gemacht, die verſchwimmenden Umriſſe geſchärft; es ſteht
jetzt ein unverkennbar Einzelnes vor mir. Dieſes Einzelne iſt zwar durch-
drungen von unendlicher Bedeutung, und in dieſe Bedeutung iſt auch

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[170/0184] Göttergeſtalt ſo wenig auf, als ſich ſelbſt, und wird, wenn man ihm daran rührt, böſe. Der Schein in der Religion iſt ein unfreier. Der Unterſchied zwiſchen Religion und Schönheit, wie er in §. 26 ſchon angekündigt iſt, beſtimmt ſich alſo jetzt als ein Unterſchied des ver- wechſelnden oder unfreien und des freien Scheins. Sucht die Wiſſenſchaft die dargeſtellte Verwechslung, die nur um ſo zäher iſt, je mehr ſie ſich in’s Innere zurückzieht, zu löſen, ſo kommt alsbald an den Tag, daß der Gott das anbetende Subject ſelbſt iſt, denn es nimmt den Verſuch als die ſchwerſte perſönliche Beleidigung auf und behandelt die Frage als ſeine eigene Exiſtenzfrage. §. 66. Der Schein im Schönen dagegen iſt dadurch ein freier, daß die Schönheit den Gehalt, wie ſie ihn zunächſt aus der Hand der Religion erhält, völlig in die reine Form herausbildet: er wird dadurch zum reinen, in der Unendlichkeit des Ausdrucks zugleich begrenzten Gegenſtande, und während in der religiöſen Vorſtellung durch jenes undeutliche Zeichnen (§. 61) mit den verſchwimmenden Umriſſen des inneren Bildes auch der Inhalt in Eins verſchwimmt, ſo kann nun das ſo Begrenzte nicht mehr mit dem Abſoluten verwechſelt werden. Das Subject ahnt und ergreift zwar in der ſo dargeſtellten Idee das All und ſich; aber es kann nicht mehr meinen, daß der Gegenſtand dieſes All unmittelbar wirklich ſey. Durch dieſe Befreiung des Bewußtſeyns aus jenem Verwachſenſeyn und jener Verwechslung wird die Schönheit die vorbereitende Bildungsſtufe für den Geiſt, der als denkender allen Schein auflöst. Dieſer §. iſt Ergänzung zu §. 63. Das Schöne iſt frei und befreit. Wenn hier ſchon vom Künſtler die Rede wäre, ſo dürfte zum Beweiſe dieſes Satzes nur an die Wahrheit erinnert werden, daß derſelbe ſich einen Affect, mit dem er unfrei verwachſen war, indem er ihn objectivirt, von der Seele löst. Man denke an bekannte Geſtändniſſe Göthes. Wir ſtehen jedoch hier in der Religion und haben es mit dem religiöſen Bewußtſeyn zu thun, das ſich ſeinen Gehalt vom Künſtler in der Form der Schönheit zurückgeben läßt, in der Meinung, darin den Triumph ſeines Glaubens zu beſitzen. Allein das ſchöne Werk hat die undeutliche Vor- ſtellung deutlich gemacht, die verſchwimmenden Umriſſe geſchärft; es ſteht jetzt ein unverkennbar Einzelnes vor mir. Dieſes Einzelne iſt zwar durch- drungen von unendlicher Bedeutung, und in dieſe Bedeutung iſt auch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/184>, abgerufen am 19.03.2024.