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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Hegel vorwerfen zu müssen, daß er dem Schönen die philosophische Idee
unterschiebe (vergl. §. 15, Anm. 1). Uebrigens gehen aus dem Inhalte
dieses Paragraphen wichtige Folgesätze für die Kunst hervor. Das reine
Wesen des Schönen ist überall aufgehoben, wo ein als Wahrheit aus-
gesprochener Gehalt sich neben die sinnliche Form in einem Kunstwerke
stellt, statt ganz in Form gesetzt zu seyn und in ihr aufzugehen. Die
Form wird dadurch blos Vehikel; die Begriffsbestimmung in §. 14 ist
verletzt und es entsteht Zwitterkunst, die in das Gebiet der blos an-
hängenden Schönheit gehört (§. 23).

§. 69.

Da die strenge Wahrheit jene Mitte auflöst, da sie also trennt, was die
Schönheit vereinigt, so scheint diese höher als jene. Allein die Wahrheit trennt
überhaupt alle Einheit im ganzen Umfange der wirklichen Idee nur, um sie als
Einheit wahrhaft zu begreifen, und so hebt sie auch die besondere Einheit des
Schönen, den Schein nämlich eines unmittelbaren reinen Zusammenfallens der
Idee mit dem Einzelnen, nur auf, um auch ihn in seiner Nothwendigkeit zu
denken. Wenn die Schönheit den Gegensatz des Allgemeinen und Einzelnen
scheinbar auf Einem Punkte löst, so löst ihn die Wahrheit überhaupt und im
Ganzen. Die Wahrheit setzt nicht das Allgemeine und Nothwendige und läßt
das Einzelne und Zufällige liegen, sie begreift jenes in diesem, für den auf-
gelösten Schein der unmittelbaren Einheit gibt sie die scheinlose vermittelte
Einheit; aber ebendarum begreift sie unter den Formen der Lösung jenes Ge-
gensatzes auf die ästhetische in ihrem Recht und Grund wie in ihrem Mangel.
Nothwendig aber ist dasjenige höher, was das Andere zum Gegenstand macht
und begreift.

Der Streit über die Rangordnung des Schönen und Wahren wurde
zur Zeit der Reflexionsphilosophie zu Gunsten des Ersten entschieden.
Obwohl Kant das Aesthetische vor allen Begriff setzt (s. d. Einl. §. 5
Anm.) und demnach der Begriff, weil er darüber kommt und es als
seinen Gegenstand begreift, folgerichtig einen höheren Platz einnehmen
muß, so stand es doch eben mit dem Begriffe in dieser Philosophie so,
daß er weder die Einheit der Idee und der Wirklichkeit überhaupt, welche
dem Schönen zu Grund liegt, noch die scheinbare besondere Einheit im
Schönen begriff, sondern nur zu einer Ahnung derselben sich erhob;
daher mußte das Schöne über den Begriff gestellt werden. Nur

Hegel vorwerfen zu müſſen, daß er dem Schönen die philoſophiſche Idee
unterſchiebe (vergl. §. 15, Anm. 1). Uebrigens gehen aus dem Inhalte
dieſes Paragraphen wichtige Folgeſätze für die Kunſt hervor. Das reine
Weſen des Schönen iſt überall aufgehoben, wo ein als Wahrheit aus-
geſprochener Gehalt ſich neben die ſinnliche Form in einem Kunſtwerke
ſtellt, ſtatt ganz in Form geſetzt zu ſeyn und in ihr aufzugehen. Die
Form wird dadurch blos Vehikel; die Begriffsbeſtimmung in §. 14 iſt
verletzt und es entſteht Zwitterkunſt, die in das Gebiet der blos an-
hängenden Schönheit gehört (§. 23).

§. 69.

Da die ſtrenge Wahrheit jene Mitte auflöst, da ſie alſo trennt, was die
Schönheit vereinigt, ſo ſcheint dieſe höher als jene. Allein die Wahrheit trennt
überhaupt alle Einheit im ganzen Umfange der wirklichen Idee nur, um ſie als
Einheit wahrhaft zu begreifen, und ſo hebt ſie auch die beſondere Einheit des
Schönen, den Schein nämlich eines unmittelbaren reinen Zuſammenfallens der
Idee mit dem Einzelnen, nur auf, um auch ihn in ſeiner Nothwendigkeit zu
denken. Wenn die Schönheit den Gegenſatz des Allgemeinen und Einzelnen
ſcheinbar auf Einem Punkte löst, ſo löst ihn die Wahrheit überhaupt und im
Ganzen. Die Wahrheit ſetzt nicht das Allgemeine und Nothwendige und läßt
das Einzelne und Zufällige liegen, ſie begreift jenes in dieſem, für den auf-
gelösten Schein der unmittelbaren Einheit gibt ſie die ſcheinloſe vermittelte
Einheit; aber ebendarum begreift ſie unter den Formen der Löſung jenes Ge-
genſatzes auf die äſthetiſche in ihrem Recht und Grund wie in ihrem Mangel.
Nothwendig aber iſt dasjenige höher, was das Andere zum Gegenſtand macht
und begreift.

Der Streit über die Rangordnung des Schönen und Wahren wurde
zur Zeit der Reflexionsphiloſophie zu Gunſten des Erſten entſchieden.
Obwohl Kant das Aeſthetiſche vor allen Begriff ſetzt (ſ. d. Einl. §. 5
Anm.) und demnach der Begriff, weil er darüber kommt und es als
ſeinen Gegenſtand begreift, folgerichtig einen höheren Platz einnehmen
muß, ſo ſtand es doch eben mit dem Begriffe in dieſer Philoſophie ſo,
daß er weder die Einheit der Idee und der Wirklichkeit überhaupt, welche
dem Schönen zu Grund liegt, noch die ſcheinbare beſondere Einheit im
Schönen begriff, ſondern nur zu einer Ahnung derſelben ſich erhob;
daher mußte das Schöne über den Begriff geſtellt werden. Nur

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[173/0187] Hegel vorwerfen zu müſſen, daß er dem Schönen die philoſophiſche Idee unterſchiebe (vergl. §. 15, Anm. 1). Uebrigens gehen aus dem Inhalte dieſes Paragraphen wichtige Folgeſätze für die Kunſt hervor. Das reine Weſen des Schönen iſt überall aufgehoben, wo ein als Wahrheit aus- geſprochener Gehalt ſich neben die ſinnliche Form in einem Kunſtwerke ſtellt, ſtatt ganz in Form geſetzt zu ſeyn und in ihr aufzugehen. Die Form wird dadurch blos Vehikel; die Begriffsbeſtimmung in §. 14 iſt verletzt und es entſteht Zwitterkunſt, die in das Gebiet der blos an- hängenden Schönheit gehört (§. 23). §. 69. Da die ſtrenge Wahrheit jene Mitte auflöst, da ſie alſo trennt, was die Schönheit vereinigt, ſo ſcheint dieſe höher als jene. Allein die Wahrheit trennt überhaupt alle Einheit im ganzen Umfange der wirklichen Idee nur, um ſie als Einheit wahrhaft zu begreifen, und ſo hebt ſie auch die beſondere Einheit des Schönen, den Schein nämlich eines unmittelbaren reinen Zuſammenfallens der Idee mit dem Einzelnen, nur auf, um auch ihn in ſeiner Nothwendigkeit zu denken. Wenn die Schönheit den Gegenſatz des Allgemeinen und Einzelnen ſcheinbar auf Einem Punkte löst, ſo löst ihn die Wahrheit überhaupt und im Ganzen. Die Wahrheit ſetzt nicht das Allgemeine und Nothwendige und läßt das Einzelne und Zufällige liegen, ſie begreift jenes in dieſem, für den auf- gelösten Schein der unmittelbaren Einheit gibt ſie die ſcheinloſe vermittelte Einheit; aber ebendarum begreift ſie unter den Formen der Löſung jenes Ge- genſatzes auf die äſthetiſche in ihrem Recht und Grund wie in ihrem Mangel. Nothwendig aber iſt dasjenige höher, was das Andere zum Gegenſtand macht und begreift. Der Streit über die Rangordnung des Schönen und Wahren wurde zur Zeit der Reflexionsphiloſophie zu Gunſten des Erſten entſchieden. Obwohl Kant das Aeſthetiſche vor allen Begriff ſetzt (ſ. d. Einl. §. 5 Anm.) und demnach der Begriff, weil er darüber kommt und es als ſeinen Gegenſtand begreift, folgerichtig einen höheren Platz einnehmen muß, ſo ſtand es doch eben mit dem Begriffe in dieſer Philoſophie ſo, daß er weder die Einheit der Idee und der Wirklichkeit überhaupt, welche dem Schönen zu Grund liegt, noch die ſcheinbare beſondere Einheit im Schönen begriff, ſondern nur zu einer Ahnung derſelben ſich erhob; daher mußte das Schöne über den Begriff geſtellt werden. Nur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/187>, abgerufen am 19.03.2024.