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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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wegender Kräfte. Das Schöne überhaupt ist nichts Ruhendes, denn
sein Inneres ist die Idee, welche absolutes Leben und daher bauende
Bewegung ist. Ganz wirkliche Bewegung ist der Ton; nun erinnere
man sich, daß für den fühlenden Zuschauer selbst die starren Formen
der Architectur zu fließen und im Fließen zu tönen scheinen: so klingt
fließend das ganze Reich der Schönheit. Allerdings kann bei einem
schönen menschlichen Körper jene (Schiller'sche) Anmuth des Spiels im
engeren Sinne ausbleiben; davon ist anderswo zu reden, es hindert
aber nicht, den Fluß der schönen Formen ebenfalls, im weiteren Sinne,
anmuthig zu nennen. So ist die Anmuth zunächst im Gegenstande als
Ausdruck der lebendigen Bewegung der Idee erklärt. Diese Bewegung
durchdringt den Stoff, aber durchaus liberal, so daß seiner Zufälligkeit
kein Zwang angethan wird. Nun erwäge man, daß im Subjecte die-
selbe Idee als Geist lebt und wirkt. Das Subject wird nach §. 70
vorausgesetzt. Es ist nun zwar in ihm dasselbe vereinigt, was im
Schönen, Geist und Sinnenwesen; aber im Schönen sind beide rein von-
einander durchdrungen, während das Subject zunächst das empirische
Subject ist, von welchem nicht erwartet werden kann, daß diese freie
Harmonie in ihm vollzogen sey. Davon wird ausdrücklich die Rede
werden. Das empirische Subject wird also die Harmonie suchen. Was
es sucht, muß es -- als Möglichkeit -- in sich tragen. Im
Schönen findet es das vollendet, was in ihm unvollendet ist. So be-
rühren sich beide als schlechthin homogene Wesen, deren das eine dem
anderen ergänzend entgegenkommt. Daher ist die innere Bewegung im
schönen Gegenstande zugleich eine Bewegung nach dem Subjecte hin und
dieser Bewegung kommt das Subject suchend entgegen. Dieses Herüber
und Hinüber ist die Anmuth. Der deutsche Name hebt mehr das innerlich
Gemüthvolle, der römische (und der griechische: kharis) mehr die Be-
friedigung des reinen Formgefühls hervor.

§. 73.

1

Es ist dies die Grazie des Schönen überhaupt, welche die in der Idee
begründete Hohheit wesentlich in sich schließt und von einer Abzweigung und
einer Abart wohl zu unterscheiden ist. Die erstere entsteht, wenn das Schöne
in seine Gegensätze auseinandertritt, wo denn im Unterschiede von der allge-
meinen Grazie, welche den Formen des Gegensatzes bleibt, die Grazie im
engeren Sinn vorzüglich derjenigen Erscheinung beigelegt werden wird, in welcher

wegender Kräfte. Das Schöne überhaupt iſt nichts Ruhendes, denn
ſein Inneres iſt die Idee, welche abſolutes Leben und daher bauende
Bewegung iſt. Ganz wirkliche Bewegung iſt der Ton; nun erinnere
man ſich, daß für den fühlenden Zuſchauer ſelbſt die ſtarren Formen
der Architectur zu fließen und im Fließen zu tönen ſcheinen: ſo klingt
fließend das ganze Reich der Schönheit. Allerdings kann bei einem
ſchönen menſchlichen Körper jene (Schiller’ſche) Anmuth des Spiels im
engeren Sinne ausbleiben; davon iſt anderswo zu reden, es hindert
aber nicht, den Fluß der ſchönen Formen ebenfalls, im weiteren Sinne,
anmuthig zu nennen. So iſt die Anmuth zunächſt im Gegenſtande als
Ausdruck der lebendigen Bewegung der Idee erklärt. Dieſe Bewegung
durchdringt den Stoff, aber durchaus liberal, ſo daß ſeiner Zufälligkeit
kein Zwang angethan wird. Nun erwäge man, daß im Subjecte die-
ſelbe Idee als Geiſt lebt und wirkt. Das Subject wird nach §. 70
vorausgeſetzt. Es iſt nun zwar in ihm daſſelbe vereinigt, was im
Schönen, Geiſt und Sinnenweſen; aber im Schönen ſind beide rein von-
einander durchdrungen, während das Subject zunächſt das empiriſche
Subject iſt, von welchem nicht erwartet werden kann, daß dieſe freie
Harmonie in ihm vollzogen ſey. Davon wird ausdrücklich die Rede
werden. Das empiriſche Subject wird alſo die Harmonie ſuchen. Was
es ſucht, muß es — als Möglichkeit — in ſich tragen. Im
Schönen findet es das vollendet, was in ihm unvollendet iſt. So be-
rühren ſich beide als ſchlechthin homogene Weſen, deren das eine dem
anderen ergänzend entgegenkommt. Daher iſt die innere Bewegung im
ſchönen Gegenſtande zugleich eine Bewegung nach dem Subjecte hin und
dieſer Bewegung kommt das Subject ſuchend entgegen. Dieſes Herüber
und Hinüber iſt die Anmuth. Der deutſche Name hebt mehr das innerlich
Gemüthvolle, der römiſche (und der griechiſche: χάρις) mehr die Be-
friedigung des reinen Formgefühls hervor.

§. 73.

1

Es iſt dies die Grazie des Schönen überhaupt, welche die in der Idee
begründete Hohheit weſentlich in ſich ſchließt und von einer Abzweigung und
einer Abart wohl zu unterſcheiden iſt. Die erſtere entſteht, wenn das Schöne
in ſeine Gegenſätze auseinandertritt, wo denn im Unterſchiede von der allge-
meinen Grazie, welche den Formen des Gegenſatzes bleibt, die Grazie im
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[186/0200] wegender Kräfte. Das Schöne überhaupt iſt nichts Ruhendes, denn ſein Inneres iſt die Idee, welche abſolutes Leben und daher bauende Bewegung iſt. Ganz wirkliche Bewegung iſt der Ton; nun erinnere man ſich, daß für den fühlenden Zuſchauer ſelbſt die ſtarren Formen der Architectur zu fließen und im Fließen zu tönen ſcheinen: ſo klingt fließend das ganze Reich der Schönheit. Allerdings kann bei einem ſchönen menſchlichen Körper jene (Schiller’ſche) Anmuth des Spiels im engeren Sinne ausbleiben; davon iſt anderswo zu reden, es hindert aber nicht, den Fluß der ſchönen Formen ebenfalls, im weiteren Sinne, anmuthig zu nennen. So iſt die Anmuth zunächſt im Gegenſtande als Ausdruck der lebendigen Bewegung der Idee erklärt. Dieſe Bewegung durchdringt den Stoff, aber durchaus liberal, ſo daß ſeiner Zufälligkeit kein Zwang angethan wird. Nun erwäge man, daß im Subjecte die- ſelbe Idee als Geiſt lebt und wirkt. Das Subject wird nach §. 70 vorausgeſetzt. Es iſt nun zwar in ihm daſſelbe vereinigt, was im Schönen, Geiſt und Sinnenweſen; aber im Schönen ſind beide rein von- einander durchdrungen, während das Subject zunächſt das empiriſche Subject iſt, von welchem nicht erwartet werden kann, daß dieſe freie Harmonie in ihm vollzogen ſey. Davon wird ausdrücklich die Rede werden. Das empiriſche Subject wird alſo die Harmonie ſuchen. Was es ſucht, muß es — als Möglichkeit — in ſich tragen. Im Schönen findet es das vollendet, was in ihm unvollendet iſt. So be- rühren ſich beide als ſchlechthin homogene Weſen, deren das eine dem anderen ergänzend entgegenkommt. Daher iſt die innere Bewegung im ſchönen Gegenſtande zugleich eine Bewegung nach dem Subjecte hin und dieſer Bewegung kommt das Subject ſuchend entgegen. Dieſes Herüber und Hinüber iſt die Anmuth. Der deutſche Name hebt mehr das innerlich Gemüthvolle, der römiſche (und der griechiſche: χάρις) mehr die Be- friedigung des reinen Formgefühls hervor. §. 73. Es iſt dies die Grazie des Schönen überhaupt, welche die in der Idee begründete Hohheit weſentlich in ſich ſchließt und von einer Abzweigung und einer Abart wohl zu unterſcheiden iſt. Die erſtere entſteht, wenn das Schöne in ſeine Gegenſätze auseinandertritt, wo denn im Unterſchiede von der allge- meinen Grazie, welche den Formen des Gegenſatzes bleibt, die Grazie im engeren Sinn vorzüglich derjenigen Erſcheinung beigelegt werden wird, in welcher

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/200>, abgerufen am 19.03.2024.