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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 74.

Die erste Wirkung des Schönen ist also zwar sinnlich, aber nur im Be-1
griff, in der Zeit kaum augenblicklich trennbar von der zweiten, welche geistig
ist, aber so, daß sie die erste, sinnliche, völlig in sich aufnimmt, wodurch das
Verhältniß sich umwendet. Das Sinnliche wird so die reine Mitte, durch
welche der im Object und der im Subject lebendige Geist zusammengeht, und
indem sich durch seine flüssige Vermittlung die in §. 72 ausgesprochene freie
Harmonie bewirkt, so ist das Schöne nicht nur überhaupt, im Sinne von §. 19,
sondern gemäß seiner reinen Form im Sinne zwanglos vollendeten Einklangs
persönlich in ebeademselben, vom ethischen wohl zu unterscheidenden, Sinne
personbildend. Zusammengefaßt mit dieser Wirkung auf das Subject ist nun2
das Schöne zu bestimmen als die sich selbst erscheinende oder sich selbst an-
schauende Idee, der durch die Mitte des angeschauten Bildes sich mit sich
selbst zusammenschließende Geist (Ruge).

1. "Wodurch das Verhältniß sich umwendet". Was der Zeit nach
zuerst wirkt, ist die sinnliche Bestimmtheit des schönen Gegenstands, und
was ihr zuerst begegnet, die Sinnlichkeit des Subjects. Allein in die
erstere ist völlig und ohne Rest die Idee ergossen, welche das eigentlich
Wesenhafte und Thätige im ganzen Gegenstande ist. Daher ist auch im
anschauenden Subjecte die Sinnlichkeit nur in einer unendlich kleinen Zeit-
dauer für sich betheiligt, der Geist eilt alsbald durch sie dem Geiste im
Gegenstand zu. Von einer stumpfen und rohen Betrachtungsweise, die
sich aus der reinen Gestalt nichts entnimmt als sinnlichen Reiz, kann
hier nicht die Rede werden, sie fällt der Moral zu. Nun ist also auch
im Subjecte die geistige Erhebung das Wesentliche, dem Werthe nach
Erste. Im Object und Subject ist nun der Geist zwar das Durch-
dringende, das Sinnliche das Durchdrungene, aber dies Durchdrin-
gen und Durchdrungenwerden ist nicht ein Zwang, der ausgeübt und
gelitten wird, sondern harmonisches Durchfließen; das Sinnliche ist daher
hier die zwang- und widerstandslose, reine Mitte zwischen Geist und Geist;
Mitte, nicht Mittel. Der Gehalt im Gegenstand und der Geist im
Subjecte schickt sich das Sinnliche voraus; aber nicht, um es sofort
wie einen blosen Boten zu entlassen, sondern nur durch es und in ihm
begrüßen sich beide Geister. In §. 19 wurde das Schöne als Persön-
lichkeit bestimmt, aber nur im Sinne des sittlichen Gehaltes, der in ihm
erscheint. In Abschnitt C. wurde erst entwickelt, wie dieser Gehalt rein

§. 74.

Die erſte Wirkung des Schönen iſt alſo zwar ſinnlich, aber nur im Be-1
griff, in der Zeit kaum augenblicklich trennbar von der zweiten, welche geiſtig
iſt, aber ſo, daß ſie die erſte, ſinnliche, völlig in ſich aufnimmt, wodurch das
Verhältniß ſich umwendet. Das Sinnliche wird ſo die reine Mitte, durch
welche der im Object und der im Subject lebendige Geiſt zuſammengeht, und
indem ſich durch ſeine flüſſige Vermittlung die in §. 72 ausgeſprochene freie
Harmonie bewirkt, ſo iſt das Schöne nicht nur überhaupt, im Sinne von §. 19,
ſondern gemäß ſeiner reinen Form im Sinne zwanglos vollendeten Einklangs
perſönlich in ebeademſelben, vom ethiſchen wohl zu unterſcheidenden, Sinne
perſonbildend. Zuſammengefaßt mit dieſer Wirkung auf das Subject iſt nun2
das Schöne zu beſtimmen als die ſich ſelbſt erſcheinende oder ſich ſelbſt an-
ſchauende Idee, der durch die Mitte des angeſchauten Bildes ſich mit ſich
ſelbſt zuſammenſchließende Geiſt (Ruge).

1. „Wodurch das Verhältniß ſich umwendet“. Was der Zeit nach
zuerſt wirkt, iſt die ſinnliche Beſtimmtheit des ſchönen Gegenſtands, und
was ihr zuerſt begegnet, die Sinnlichkeit des Subjects. Allein in die
erſtere iſt völlig und ohne Reſt die Idee ergoſſen, welche das eigentlich
Weſenhafte und Thätige im ganzen Gegenſtande iſt. Daher iſt auch im
anſchauenden Subjecte die Sinnlichkeit nur in einer unendlich kleinen Zeit-
dauer für ſich betheiligt, der Geiſt eilt alsbald durch ſie dem Geiſte im
Gegenſtand zu. Von einer ſtumpfen und rohen Betrachtungsweiſe, die
ſich aus der reinen Geſtalt nichts entnimmt als ſinnlichen Reiz, kann
hier nicht die Rede werden, ſie fällt der Moral zu. Nun iſt alſo auch
im Subjecte die geiſtige Erhebung das Weſentliche, dem Werthe nach
Erſte. Im Object und Subject iſt nun der Geiſt zwar das Durch-
dringende, das Sinnliche das Durchdrungene, aber dies Durchdrin-
gen und Durchdrungenwerden iſt nicht ein Zwang, der ausgeübt und
gelitten wird, ſondern harmoniſches Durchfließen; das Sinnliche iſt daher
hier die zwang- und widerſtandsloſe, reine Mitte zwiſchen Geiſt und Geiſt;
Mitte, nicht Mittel. Der Gehalt im Gegenſtand und der Geiſt im
Subjecte ſchickt ſich das Sinnliche voraus; aber nicht, um es ſofort
wie einen bloſen Boten zu entlaſſen, ſondern nur durch es und in ihm
begrüßen ſich beide Geiſter. In §. 19 wurde das Schöne als Perſön-
lichkeit beſtimmt, aber nur im Sinne des ſittlichen Gehaltes, der in ihm
erſcheint. In Abſchnitt C. wurde erſt entwickelt, wie dieſer Gehalt rein

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[189/0203] §. 74. Die erſte Wirkung des Schönen iſt alſo zwar ſinnlich, aber nur im Be- griff, in der Zeit kaum augenblicklich trennbar von der zweiten, welche geiſtig iſt, aber ſo, daß ſie die erſte, ſinnliche, völlig in ſich aufnimmt, wodurch das Verhältniß ſich umwendet. Das Sinnliche wird ſo die reine Mitte, durch welche der im Object und der im Subject lebendige Geiſt zuſammengeht, und indem ſich durch ſeine flüſſige Vermittlung die in §. 72 ausgeſprochene freie Harmonie bewirkt, ſo iſt das Schöne nicht nur überhaupt, im Sinne von §. 19, ſondern gemäß ſeiner reinen Form im Sinne zwanglos vollendeten Einklangs perſönlich in ebeademſelben, vom ethiſchen wohl zu unterſcheidenden, Sinne perſonbildend. Zuſammengefaßt mit dieſer Wirkung auf das Subject iſt nun das Schöne zu beſtimmen als die ſich ſelbſt erſcheinende oder ſich ſelbſt an- ſchauende Idee, der durch die Mitte des angeſchauten Bildes ſich mit ſich ſelbſt zuſammenſchließende Geiſt (Ruge). 1. „Wodurch das Verhältniß ſich umwendet“. Was der Zeit nach zuerſt wirkt, iſt die ſinnliche Beſtimmtheit des ſchönen Gegenſtands, und was ihr zuerſt begegnet, die Sinnlichkeit des Subjects. Allein in die erſtere iſt völlig und ohne Reſt die Idee ergoſſen, welche das eigentlich Weſenhafte und Thätige im ganzen Gegenſtande iſt. Daher iſt auch im anſchauenden Subjecte die Sinnlichkeit nur in einer unendlich kleinen Zeit- dauer für ſich betheiligt, der Geiſt eilt alsbald durch ſie dem Geiſte im Gegenſtand zu. Von einer ſtumpfen und rohen Betrachtungsweiſe, die ſich aus der reinen Geſtalt nichts entnimmt als ſinnlichen Reiz, kann hier nicht die Rede werden, ſie fällt der Moral zu. Nun iſt alſo auch im Subjecte die geiſtige Erhebung das Weſentliche, dem Werthe nach Erſte. Im Object und Subject iſt nun der Geiſt zwar das Durch- dringende, das Sinnliche das Durchdrungene, aber dies Durchdrin- gen und Durchdrungenwerden iſt nicht ein Zwang, der ausgeübt und gelitten wird, ſondern harmoniſches Durchfließen; das Sinnliche iſt daher hier die zwang- und widerſtandsloſe, reine Mitte zwiſchen Geiſt und Geiſt; Mitte, nicht Mittel. Der Gehalt im Gegenſtand und der Geiſt im Subjecte ſchickt ſich das Sinnliche voraus; aber nicht, um es ſofort wie einen bloſen Boten zu entlaſſen, ſondern nur durch es und in ihm begrüßen ſich beide Geiſter. In §. 19 wurde das Schöne als Perſön- lichkeit beſtimmt, aber nur im Sinne des ſittlichen Gehaltes, der in ihm erſcheint. In Abſchnitt C. wurde erſt entwickelt, wie dieſer Gehalt rein

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/203>, abgerufen am 19.03.2024.