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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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oder einem Reiter prosaisch, aber der ungeheure Zeitgewinn für die geisti-
gen Zwecke kann in einem poetischen Zusammenhang dennoch große Wir-
kungen thun. Hier aber ist die Rede von der subjectiven Betrachtungs-
weise, welche das, was wirklich nicht um eines äußern Zweckes willen
da ist, unter einen solchen rückt; daher z. B. der Landmann keine
landschaftliche Schönheit genießt, weil er Erde, Wasser, Luft unter dem
Standpunkte der Brauchbarkeit ansieht. Ebenso kann das, was an sich
einem äußeren Zwecke dient, aber durch Behandlung in das Licht poeti-
scher Selbständigkeit gerückt ist, von einem prosaischen Sinn so betrachtet
werden, daß die Schönheit zersetzt wird. Ein Fuhrmannswagen mit
tüchtigen Hengsten läßt sich nicht ganz poetisch auffassen, aber wohl vom
Kaufmann, dem er die Waaren zuführt. So alle Sphären der Oekonomie.

§. 77.

Stoffartig und mit Interesse verbunden ist, wiewohl hier das Interesse
weder blos der sinnlichen Materie, noch blos dem Gehalte, sondern dem ganzen
Gegenstand als Stoff gilt, auch das religiöse Verhalten; denn da es auf Ver-
wechslung und unfreiem Schein beruht, so ist ihm Alles an der Existenz des
Gegenstandes, den es allerdings nur vermöge eines Widerspruchs als empirisch
und zugleich als über aller Empirie vorhanden ansehen kann, und an der an-
dächtigen Erhebung des Subjects zu diesem Gegenstande gelegen. Daher hat
es mit der Form im ästhetischen Objecte als reiner Form nichts zu thun. Wer
das Schöne mit der Stimmung betrachtet, die es nur als Mittel benützt, um
die religiöse Bewegung des Gemüths zu vollziehen, der empfindet die Schönheit
nicht als Schönheit, und wer diese als solche frei anschaut und genießt, ist nicht
im Zustande der Andacht. Vergl. §. 61--67.

Auch hier ist nur subjectiv gewendet, was in §. 61--67 objectiv
ausgesprochen ist. Es ist in diesem Zusammenhang gleichgültig, ob das
Götterbild wirklich als der Gott selbst angebetet oder nur als eine Er-
innerung an ihn zum Vehikel der Andacht wird, oder ob sich das Bild
als blose Vorstellung in's Innere zurückzieht; denn auch in den beiden
letzteren Fällen ist Alles an der Existenz des Gegenstandes gelegen,
wiewohl dieselbe nun nicht in dem vorliegenden Werke, sondern auf
dem Olymp, Himalaya, über den Wolken gesucht wird. Daß der so
in stoffartigem Sinne als existirend vorausgesetzte Gegenstand zugleich über

oder einem Reiter proſaiſch, aber der ungeheure Zeitgewinn für die geiſti-
gen Zwecke kann in einem poetiſchen Zuſammenhang dennoch große Wir-
kungen thun. Hier aber iſt die Rede von der ſubjectiven Betrachtungs-
weiſe, welche das, was wirklich nicht um eines äußern Zweckes willen
da iſt, unter einen ſolchen rückt; daher z. B. der Landmann keine
landſchaftliche Schönheit genießt, weil er Erde, Waſſer, Luft unter dem
Standpunkte der Brauchbarkeit anſieht. Ebenſo kann das, was an ſich
einem äußeren Zwecke dient, aber durch Behandlung in das Licht poeti-
ſcher Selbſtändigkeit gerückt iſt, von einem proſaiſchen Sinn ſo betrachtet
werden, daß die Schönheit zerſetzt wird. Ein Fuhrmannswagen mit
tüchtigen Hengſten läßt ſich nicht ganz poetiſch auffaſſen, aber wohl vom
Kaufmann, dem er die Waaren zuführt. So alle Sphären der Oekonomie.

§. 77.

Stoffartig und mit Intereſſe verbunden iſt, wiewohl hier das Intereſſe
weder blos der ſinnlichen Materie, noch blos dem Gehalte, ſondern dem ganzen
Gegenſtand als Stoff gilt, auch das religiöſe Verhalten; denn da es auf Ver-
wechslung und unfreiem Schein beruht, ſo iſt ihm Alles an der Exiſtenz des
Gegenſtandes, den es allerdings nur vermöge eines Widerſpruchs als empiriſch
und zugleich als über aller Empirie vorhanden anſehen kann, und an der an-
dächtigen Erhebung des Subjects zu dieſem Gegenſtande gelegen. Daher hat
es mit der Form im äſthetiſchen Objecte als reiner Form nichts zu thun. Wer
das Schöne mit der Stimmung betrachtet, die es nur als Mittel benützt, um
die religiöſe Bewegung des Gemüths zu vollziehen, der empfindet die Schönheit
nicht als Schönheit, und wer dieſe als ſolche frei anſchaut und genießt, iſt nicht
im Zuſtande der Andacht. Vergl. §. 61—67.

Auch hier iſt nur ſubjectiv gewendet, was in §. 61—67 objectiv
ausgeſprochen iſt. Es iſt in dieſem Zuſammenhang gleichgültig, ob das
Götterbild wirklich als der Gott ſelbſt angebetet oder nur als eine Er-
innerung an ihn zum Vehikel der Andacht wird, oder ob ſich das Bild
als bloſe Vorſtellung in’s Innere zurückzieht; denn auch in den beiden
letzteren Fällen iſt Alles an der Exiſtenz des Gegenſtandes gelegen,
wiewohl dieſelbe nun nicht in dem vorliegenden Werke, ſondern auf
dem Olymp, Himalaya, über den Wolken geſucht wird. Daß der ſo
in ſtoffartigem Sinne als exiſtirend vorausgeſetzte Gegenſtand zugleich über

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[199/0213] oder einem Reiter proſaiſch, aber der ungeheure Zeitgewinn für die geiſti- gen Zwecke kann in einem poetiſchen Zuſammenhang dennoch große Wir- kungen thun. Hier aber iſt die Rede von der ſubjectiven Betrachtungs- weiſe, welche das, was wirklich nicht um eines äußern Zweckes willen da iſt, unter einen ſolchen rückt; daher z. B. der Landmann keine landſchaftliche Schönheit genießt, weil er Erde, Waſſer, Luft unter dem Standpunkte der Brauchbarkeit anſieht. Ebenſo kann das, was an ſich einem äußeren Zwecke dient, aber durch Behandlung in das Licht poeti- ſcher Selbſtändigkeit gerückt iſt, von einem proſaiſchen Sinn ſo betrachtet werden, daß die Schönheit zerſetzt wird. Ein Fuhrmannswagen mit tüchtigen Hengſten läßt ſich nicht ganz poetiſch auffaſſen, aber wohl vom Kaufmann, dem er die Waaren zuführt. So alle Sphären der Oekonomie. §. 77. Stoffartig und mit Intereſſe verbunden iſt, wiewohl hier das Intereſſe weder blos der ſinnlichen Materie, noch blos dem Gehalte, ſondern dem ganzen Gegenſtand als Stoff gilt, auch das religiöſe Verhalten; denn da es auf Ver- wechslung und unfreiem Schein beruht, ſo iſt ihm Alles an der Exiſtenz des Gegenſtandes, den es allerdings nur vermöge eines Widerſpruchs als empiriſch und zugleich als über aller Empirie vorhanden anſehen kann, und an der an- dächtigen Erhebung des Subjects zu dieſem Gegenſtande gelegen. Daher hat es mit der Form im äſthetiſchen Objecte als reiner Form nichts zu thun. Wer das Schöne mit der Stimmung betrachtet, die es nur als Mittel benützt, um die religiöſe Bewegung des Gemüths zu vollziehen, der empfindet die Schönheit nicht als Schönheit, und wer dieſe als ſolche frei anſchaut und genießt, iſt nicht im Zuſtande der Andacht. Vergl. §. 61—67. Auch hier iſt nur ſubjectiv gewendet, was in §. 61—67 objectiv ausgeſprochen iſt. Es iſt in dieſem Zuſammenhang gleichgültig, ob das Götterbild wirklich als der Gott ſelbſt angebetet oder nur als eine Er- innerung an ihn zum Vehikel der Andacht wird, oder ob ſich das Bild als bloſe Vorſtellung in’s Innere zurückzieht; denn auch in den beiden letzteren Fällen iſt Alles an der Exiſtenz des Gegenſtandes gelegen, wiewohl dieſelbe nun nicht in dem vorliegenden Werke, ſondern auf dem Olymp, Himalaya, über den Wolken geſucht wird. Daß der ſo in ſtoffartigem Sinne als exiſtirend vorausgeſetzte Gegenſtand zugleich über

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/213>, abgerufen am 19.03.2024.