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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Zweiter Abschnitt.
Das Schöne im Widerstreit seiner Momente.
§. 82.

Jede wahre Einheit enthält den Gegensatz als Möglichkeit in sich, sie
bethätigt sich als Einheit, indem sie ihn in die Wirklichkeit entläßt, wodurch
er, weil die Entgegengesetzten Glieder derselben Einheit sind, zum Widerspruch
wird; sie bewährt sich, indem sie im Widerspruch nicht verloren geht, sondern
ihn überwindet. Ebenso erschließt sich die Einheit des einfach Schönen gemäß
ihrem eigenen Gesetze zum wirklichen Widerstreit der Momente, welcher nur
durch eine nothwendige Abstraction in §. 50. 59. 60 zum voraus erwähnt werden
konnte; es tritt aber darum keineswegs aus seinem eigenen Kreise heraus, viel-
mehr, was sich entfaltet, ist nur eine Bewegung und Gährung im Schönen selbst
und dieses muß sich aus dem Streite wieder zu seiner Einheit herstellen.

Der §. beruft sich für die Ableitung der gegensätzlichen Formen des
Schönen zunächst auf den wahren Begriff der Einheit als einer lebendigen,
welche den Gegensatz als Keim in sich verbirgt, entläßt und überwindet.
Dieses allgemeine Gesetz des Lebens und des Denkens wird hier in seiner
Wahrheit vorausgesetzt; es kann nur in dem Sinne eine eigene Be-
gründung in einem der besonderen Zweige der Wissenschaft ansprechen, daß
es sich in dem Stoffe desselben mit Nothwendigkeit durchführt. Seine
ursprüngliche Begründung gehört in die Logik oder Metaphysik.

Daß die gegensätzlichen Formen des Schönen, das Erhabene und
Komische, als Momente des Schönen überhaupt zu begreifen und daher
in der allgemeinen Lehre vom Schönen zu entwickeln sind, wurde schon
von den englischen Kritikern des vorigen Jahrhunderts gefühlt; von einer

Zweiter Abſchnitt.
Das Schoͤne im Widerſtreit ſeiner Momente.
§. 82.

Jede wahre Einheit enthält den Gegenſatz als Möglichkeit in ſich, ſie
bethätigt ſich als Einheit, indem ſie ihn in die Wirklichkeit entläßt, wodurch
er, weil die Entgegengeſetzten Glieder derſelben Einheit ſind, zum Widerſpruch
wird; ſie bewährt ſich, indem ſie im Widerſpruch nicht verloren geht, ſondern
ihn überwindet. Ebenſo erſchließt ſich die Einheit des einfach Schönen gemäß
ihrem eigenen Geſetze zum wirklichen Widerſtreit der Momente, welcher nur
durch eine nothwendige Abſtraction in §. 50. 59. 60 zum voraus erwähnt werden
konnte; es tritt aber darum keineswegs aus ſeinem eigenen Kreiſe heraus, viel-
mehr, was ſich entfaltet, iſt nur eine Bewegung und Gährung im Schönen ſelbſt
und dieſes muß ſich aus dem Streite wieder zu ſeiner Einheit herſtellen.

Der §. beruft ſich für die Ableitung der gegenſätzlichen Formen des
Schönen zunächſt auf den wahren Begriff der Einheit als einer lebendigen,
welche den Gegenſatz als Keim in ſich verbirgt, entläßt und überwindet.
Dieſes allgemeine Geſetz des Lebens und des Denkens wird hier in ſeiner
Wahrheit vorausgeſetzt; es kann nur in dem Sinne eine eigene Be-
gründung in einem der beſonderen Zweige der Wiſſenſchaft anſprechen, daß
es ſich in dem Stoffe desſelben mit Nothwendigkeit durchführt. Seine
urſprüngliche Begründung gehört in die Logik oder Metaphyſik.

Daß die gegenſätzlichen Formen des Schönen, das Erhabene und
Komiſche, als Momente des Schönen überhaupt zu begreifen und daher
in der allgemeinen Lehre vom Schönen zu entwickeln ſind, wurde ſchon
von den engliſchen Kritikern des vorigen Jahrhunderts gefühlt; von einer

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[[214]/0228] Zweiter Abſchnitt. Das Schoͤne im Widerſtreit ſeiner Momente. §. 82. Jede wahre Einheit enthält den Gegenſatz als Möglichkeit in ſich, ſie bethätigt ſich als Einheit, indem ſie ihn in die Wirklichkeit entläßt, wodurch er, weil die Entgegengeſetzten Glieder derſelben Einheit ſind, zum Widerſpruch wird; ſie bewährt ſich, indem ſie im Widerſpruch nicht verloren geht, ſondern ihn überwindet. Ebenſo erſchließt ſich die Einheit des einfach Schönen gemäß ihrem eigenen Geſetze zum wirklichen Widerſtreit der Momente, welcher nur durch eine nothwendige Abſtraction in §. 50. 59. 60 zum voraus erwähnt werden konnte; es tritt aber darum keineswegs aus ſeinem eigenen Kreiſe heraus, viel- mehr, was ſich entfaltet, iſt nur eine Bewegung und Gährung im Schönen ſelbſt und dieſes muß ſich aus dem Streite wieder zu ſeiner Einheit herſtellen. Der §. beruft ſich für die Ableitung der gegenſätzlichen Formen des Schönen zunächſt auf den wahren Begriff der Einheit als einer lebendigen, welche den Gegenſatz als Keim in ſich verbirgt, entläßt und überwindet. Dieſes allgemeine Geſetz des Lebens und des Denkens wird hier in ſeiner Wahrheit vorausgeſetzt; es kann nur in dem Sinne eine eigene Be- gründung in einem der beſonderen Zweige der Wiſſenſchaft anſprechen, daß es ſich in dem Stoffe desſelben mit Nothwendigkeit durchführt. Seine urſprüngliche Begründung gehört in die Logik oder Metaphyſik. Daß die gegenſätzlichen Formen des Schönen, das Erhabene und Komiſche, als Momente des Schönen überhaupt zu begreifen und daher in der allgemeinen Lehre vom Schönen zu entwickeln ſind, wurde ſchon von den engliſchen Kritikern des vorigen Jahrhunderts gefühlt; von einer

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. [214]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/228>, abgerufen am 19.03.2024.