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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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daß das Schöne sogar aus seinem eigenen Interesse dieses Schauspiel
hervorrufen werde. Dies tritt jetzt ein. Die Welt ist die Einheit, welche
nothwendig durch Entfaltung des Kampfes ihre Lebendigkeit bewährt.
Aber jeder Einheits-Kreis wiederholt in sich dieselbe Natur der
Einheit, sich durch den Widerspruch zu bewegen: so auch das Schöne.
Es müßte, selbst wenn die Welt, die es vorfindet und verklärt, als
eine kampflose denkbar wäre, in seinem Kreise den Kampf seiner Elemente
entfalten. Das Schöne ist aber ein Spiegel der Welt und die Welt
kämpft: der Spiegel wird aber nicht getrübt durch den Kampf, sondern
will und sucht ihn zur Vollkommenheit seines Bildes. Der Unterschied
ist: in der Welt ist der Kampf in seinem unmittelbaren Auftreten Störung
und nur der Ueberblick zeigt ihn als Verwirklichung des Guten; im
Schönen ist das Vollkommene von Anfang und an allen Punkten un-
verlierbar in der Anschauung und der Kampf ist darum unmittelbar
angeschautes Wachsthum des Vollkommenen. In §. 59 u. 60 mußte
dies zum voraus ausgesprochen werden, um den Unterschied des Schönen
vom Guten zu entwickeln.

§. 83.

Das Bild ist in seiner Einheit mit der Idee, worin das Schöne besteht,
zwar das eigene, von ihr untrennbare Gebilde der Idee, dennoch aber die
unselbständige Seite des Ganzen, da es von dieser erst so durchdrungen seyn
muß, daß es sich zum reinen Scheine und zur reinen Form aufhebt, wenn es
seine Geltung haben soll (§. 54 u. 55). Soll daher die Einheit des Ganzen
sich als lebendiger Gegensatz bethätigen, so muß die Entgegensetzung zuerst von
der wesentlich selbständigen Seite ausgehen: die Idee reißt sich aus der ruhigen
Einheit, worin sie mit dem Gebilde verschmolzen war, los, greift über dieses
hinaus und hält ihm als dem Endlichen ihre Unendlichkeit entgegen. So ent-
steht der erste Widerstreit im Schönen, das Erhabene.

Weiße und Ruge haben, wie auch hier wieder erinnert werden
muß, die Phantasie als die Urheberin des Schönen bereits in den all-
gemeinen Begriff desselben aufgenommen. Man könnte nun uns, indem
wir nicht denselben Gang einschlagen, zum Vorwurf machen, daß dies
an gegenwärtiger Stelle eine Erschleichung zur Folge habe: denn nicht
die Idee im Gegenstande sey es, die an sich allein schon ihn zur Schön-
heit verkläre, sondern die Phantasie, die als eine zweite, geistige Natur
in ihn eindringend aus seiner Idee heraus ihn noch einmal und reiner

daß das Schöne ſogar aus ſeinem eigenen Intereſſe dieſes Schauſpiel
hervorrufen werde. Dies tritt jetzt ein. Die Welt iſt die Einheit, welche
nothwendig durch Entfaltung des Kampfes ihre Lebendigkeit bewährt.
Aber jeder Einheits-Kreis wiederholt in ſich dieſelbe Natur der
Einheit, ſich durch den Widerſpruch zu bewegen: ſo auch das Schöne.
Es müßte, ſelbſt wenn die Welt, die es vorfindet und verklärt, als
eine kampfloſe denkbar wäre, in ſeinem Kreiſe den Kampf ſeiner Elemente
entfalten. Das Schöne iſt aber ein Spiegel der Welt und die Welt
kämpft: der Spiegel wird aber nicht getrübt durch den Kampf, ſondern
will und ſucht ihn zur Vollkommenheit ſeines Bildes. Der Unterſchied
iſt: in der Welt iſt der Kampf in ſeinem unmittelbaren Auftreten Störung
und nur der Ueberblick zeigt ihn als Verwirklichung des Guten; im
Schönen iſt das Vollkommene von Anfang und an allen Punkten un-
verlierbar in der Anſchauung und der Kampf iſt darum unmittelbar
angeſchautes Wachsthum des Vollkommenen. In §. 59 u. 60 mußte
dies zum voraus ausgeſprochen werden, um den Unterſchied des Schönen
vom Guten zu entwickeln.

§. 83.

Das Bild iſt in ſeiner Einheit mit der Idee, worin das Schöne beſteht,
zwar das eigene, von ihr untrennbare Gebilde der Idee, dennoch aber die
unſelbſtändige Seite des Ganzen, da es von dieſer erſt ſo durchdrungen ſeyn
muß, daß es ſich zum reinen Scheine und zur reinen Form aufhebt, wenn es
ſeine Geltung haben ſoll (§. 54 u. 55). Soll daher die Einheit des Ganzen
ſich als lebendiger Gegenſatz bethätigen, ſo muß die Entgegenſetzung zuerſt von
der weſentlich ſelbſtändigen Seite ausgehen: die Idee reißt ſich aus der ruhigen
Einheit, worin ſie mit dem Gebilde verſchmolzen war, los, greift über dieſes
hinaus und hält ihm als dem Endlichen ihre Unendlichkeit entgegen. So ent-
ſteht der erſte Widerſtreit im Schönen, das Erhabene.

Weiße und Ruge haben, wie auch hier wieder erinnert werden
muß, die Phantaſie als die Urheberin des Schönen bereits in den all-
gemeinen Begriff deſſelben aufgenommen. Man könnte nun uns, indem
wir nicht denſelben Gang einſchlagen, zum Vorwurf machen, daß dies
an gegenwärtiger Stelle eine Erſchleichung zur Folge habe: denn nicht
die Idee im Gegenſtande ſey es, die an ſich allein ſchon ihn zur Schön-
heit verkläre, ſondern die Phantaſie, die als eine zweite, geiſtige Natur
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[218/0232] daß das Schöne ſogar aus ſeinem eigenen Intereſſe dieſes Schauſpiel hervorrufen werde. Dies tritt jetzt ein. Die Welt iſt die Einheit, welche nothwendig durch Entfaltung des Kampfes ihre Lebendigkeit bewährt. Aber jeder Einheits-Kreis wiederholt in ſich dieſelbe Natur der Einheit, ſich durch den Widerſpruch zu bewegen: ſo auch das Schöne. Es müßte, ſelbſt wenn die Welt, die es vorfindet und verklärt, als eine kampfloſe denkbar wäre, in ſeinem Kreiſe den Kampf ſeiner Elemente entfalten. Das Schöne iſt aber ein Spiegel der Welt und die Welt kämpft: der Spiegel wird aber nicht getrübt durch den Kampf, ſondern will und ſucht ihn zur Vollkommenheit ſeines Bildes. Der Unterſchied iſt: in der Welt iſt der Kampf in ſeinem unmittelbaren Auftreten Störung und nur der Ueberblick zeigt ihn als Verwirklichung des Guten; im Schönen iſt das Vollkommene von Anfang und an allen Punkten un- verlierbar in der Anſchauung und der Kampf iſt darum unmittelbar angeſchautes Wachsthum des Vollkommenen. In §. 59 u. 60 mußte dies zum voraus ausgeſprochen werden, um den Unterſchied des Schönen vom Guten zu entwickeln. §. 83. Das Bild iſt in ſeiner Einheit mit der Idee, worin das Schöne beſteht, zwar das eigene, von ihr untrennbare Gebilde der Idee, dennoch aber die unſelbſtändige Seite des Ganzen, da es von dieſer erſt ſo durchdrungen ſeyn muß, daß es ſich zum reinen Scheine und zur reinen Form aufhebt, wenn es ſeine Geltung haben ſoll (§. 54 u. 55). Soll daher die Einheit des Ganzen ſich als lebendiger Gegenſatz bethätigen, ſo muß die Entgegenſetzung zuerſt von der weſentlich ſelbſtändigen Seite ausgehen: die Idee reißt ſich aus der ruhigen Einheit, worin ſie mit dem Gebilde verſchmolzen war, los, greift über dieſes hinaus und hält ihm als dem Endlichen ihre Unendlichkeit entgegen. So ent- ſteht der erſte Widerſtreit im Schönen, das Erhabene. Weiße und Ruge haben, wie auch hier wieder erinnert werden muß, die Phantaſie als die Urheberin des Schönen bereits in den all- gemeinen Begriff deſſelben aufgenommen. Man könnte nun uns, indem wir nicht denſelben Gang einſchlagen, zum Vorwurf machen, daß dies an gegenwärtiger Stelle eine Erſchleichung zur Folge habe: denn nicht die Idee im Gegenſtande ſey es, die an ſich allein ſchon ihn zur Schön- heit verkläre, ſondern die Phantaſie, die als eine zweite, geiſtige Natur in ihn eindringend aus ſeiner Idee heraus ihn noch einmal und reiner

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/232>, abgerufen am 19.03.2024.