Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite
g.
Das Erhabene der Kraft.
§. 95.

Das ästhetische Gesetz verlangt, indem das Erhabene des Raums und der
Zeit sich als erschöpft zeigt, eine Form, welche diese beiden ebensosehr setzt und
in sich trägt, als auch über sie hinaus ist, indem sie, während sie sich ausdehnt,
von sich als einem inneren Einheitspunkt ausgeht und in sich bleibt. Diese
Form ist die Erscheinung der Kraft, welche sich ihr Organ bildet und dadurch
den Raum erfüllt, aber, indem sie sich wesentlich als Bewegung äußert, den
Raum in der Zeit, und ebenso, da sie in ihren Wechseln sich selbst gleich bleibt,
die Zeit überwindet. Diese Form ist nicht mehr blos quantitativ, sondern
qualitativ, doch so, daß das Qualitative vorerst an das Quantitative noch
wesentlich gebunden bleibt, indem eines mit dem andern steigt und fällt. Als
Lusterschütterung ist die Bewegung meist mit einem Schalle verbunden, daher
das dynamisch Erhabene häufig, doch nicht immer akustisch.

Es darf nicht schlechthin ausgesprochen werden, daß die Kraft
wesentlich an die eigentliche, sinnliche Quantität gebunden sey. Das
Verhältniß verändert sich, wie sich zeigen wird. -- J. Paul will das
dynamisch Erhabene, wie schon bemerkt, auf das Akustische zurückführen.
Das Auge, sagt er, könne nur ein quantitatives Erhabene anschauen,
die Intensität sey nicht für dasselbe. Allein ist die Straffheit der
ruhenden Muskel und das Werk der Kraft, die Bewegung, [ni][ - 4 Zeichen fehlen]
das Auge? J. Paul sagt, um von da auf die Kraft [zu][ - 5 Zeichen fehlen]
sey erst ein Schluß aus Erfahrungen nöthig. Allein dies involvirte
und verhüllte Schließen in der Sinnesanschauung darf durchaus keinen
Anstand begründen, es ist in anderer Weise mit jeder verbunden und
namentlich mit dem blosen Hören, das ja auch ein verhülltes Schließen
von dem Schall auf seine Ursache ist. Es ist seltsam, sich durch eine
solche Willkür die Aufnahme der besonders furchtbaren Wirkung einer
stille heranrückenden Kraft in die vorliegende Sphäre abzuschneiden.
Uebrigens ist die Bedeutung, welche das Gehör hier gewinnt, zugleich
ein Zeichen, daß wir in einem höheren und mehr innerlichen Gebiete
uns befinden.


γ.
Das Erhabene der Kraft.
§. 95.

Das äſthetiſche Geſetz verlangt, indem das Erhabene des Raums und der
Zeit ſich als erſchöpft zeigt, eine Form, welche dieſe beiden ebenſoſehr ſetzt und
in ſich trägt, als auch über ſie hinaus iſt, indem ſie, während ſie ſich ausdehnt,
von ſich als einem inneren Einheitspunkt ausgeht und in ſich bleibt. Dieſe
Form iſt die Erſcheinung der Kraft, welche ſich ihr Organ bildet und dadurch
den Raum erfüllt, aber, indem ſie ſich weſentlich als Bewegung äußert, den
Raum in der Zeit, und ebenſo, da ſie in ihren Wechſeln ſich ſelbſt gleich bleibt,
die Zeit überwindet. Dieſe Form iſt nicht mehr blos quantitativ, ſondern
qualitativ, doch ſo, daß das Qualitative vorerſt an das Quantitative noch
weſentlich gebunden bleibt, indem eines mit dem andern ſteigt und fällt. Als
Luſterſchütterung iſt die Bewegung meiſt mit einem Schalle verbunden, daher
das dynamiſch Erhabene häufig, doch nicht immer akuſtiſch.

Es darf nicht ſchlechthin ausgeſprochen werden, daß die Kraft
weſentlich an die eigentliche, ſinnliche Quantität gebunden ſey. Das
Verhältniß verändert ſich, wie ſich zeigen wird. — J. Paul will das
dynamiſch Erhabene, wie ſchon bemerkt, auf das Akuſtiſche zurückführen.
Das Auge, ſagt er, könne nur ein quantitatives Erhabene anſchauen,
die Intenſität ſey nicht für daſſelbe. Allein iſt die Straffheit der
ruhenden Muskel und das Werk der Kraft, die Bewegung, [ni][ – 4 Zeichen fehlen]
das Auge? J. Paul ſagt, um von da auf die Kraft [zu][ – 5 Zeichen fehlen]
ſey erſt ein Schluß aus Erfahrungen nöthig. Allein dies involvirte
und verhüllte Schließen in der Sinnesanſchauung darf durchaus keinen
Anſtand begründen, es iſt in anderer Weiſe mit jeder verbunden und
namentlich mit dem bloſen Hören, das ja auch ein verhülltes Schließen
von dem Schall auf ſeine Urſache iſt. Es iſt ſeltſam, ſich durch eine
ſolche Willkür die Aufnahme der beſonders furchtbaren Wirkung einer
ſtille heranrückenden Kraft in die vorliegende Sphäre abzuſchneiden.
Uebrigens iſt die Bedeutung, welche das Gehör hier gewinnt, zugleich
ein Zeichen, daß wir in einem höheren und mehr innerlichen Gebiete
uns befinden.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0256" n="242"/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#i">&#x03B3;.</hi><lb/>
Das Erhabene der Kraft.</head><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 95.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Das ä&#x017F;theti&#x017F;che Ge&#x017F;etz verlangt, indem das Erhabene des Raums und der<lb/>
Zeit &#x017F;ich als er&#x017F;chöpft zeigt, eine Form, welche die&#x017F;e beiden eben&#x017F;o&#x017F;ehr &#x017F;etzt und<lb/>
in &#x017F;ich trägt, als auch über &#x017F;ie hinaus i&#x017F;t, indem &#x017F;ie, während &#x017F;ie &#x017F;ich ausdehnt,<lb/>
von &#x017F;ich als einem inneren Einheitspunkt ausgeht und in &#x017F;ich bleibt. Die&#x017F;e<lb/>
Form i&#x017F;t die Er&#x017F;cheinung der <hi rendition="#g">Kraft</hi>, welche &#x017F;ich ihr Organ bildet und dadurch<lb/>
den Raum erfüllt, aber, indem &#x017F;ie &#x017F;ich we&#x017F;entlich als <hi rendition="#g">Bewegung</hi> äußert, den<lb/>
Raum in der Zeit, und eben&#x017F;o, da &#x017F;ie in ihren Wech&#x017F;eln &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gleich bleibt,<lb/>
die Zeit überwindet. Die&#x017F;e Form i&#x017F;t nicht mehr blos quantitativ, &#x017F;ondern<lb/>
qualitativ, doch &#x017F;o, daß das Qualitative vorer&#x017F;t an das Quantitative noch<lb/>
we&#x017F;entlich gebunden bleibt, indem eines mit dem andern &#x017F;teigt und fällt. Als<lb/>
Lu&#x017F;ter&#x017F;chütterung i&#x017F;t die Bewegung mei&#x017F;t mit einem Schalle verbunden, daher<lb/>
das dynami&#x017F;ch Erhabene häufig, doch nicht immer aku&#x017F;ti&#x017F;ch.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Es darf nicht &#x017F;chlechthin ausge&#x017F;prochen werden, daß die Kraft<lb/>
we&#x017F;entlich an die eigentliche, &#x017F;innliche Quantität gebunden &#x017F;ey. Das<lb/>
Verhältniß verändert &#x017F;ich, wie &#x017F;ich zeigen wird. &#x2014; J. <hi rendition="#g">Paul</hi> will das<lb/>
dynami&#x017F;ch Erhabene, wie &#x017F;chon bemerkt, auf das Aku&#x017F;ti&#x017F;che zurückführen.<lb/>
Das Auge, &#x017F;agt er, könne nur ein quantitatives Erhabene an&#x017F;chauen,<lb/>
die Inten&#x017F;ität &#x017F;ey nicht für da&#x017F;&#x017F;elbe. Allein i&#x017F;t die Straffheit der<lb/>
ruhenden Muskel und das Werk der Kraft, die Bewegung, <supplied>ni</supplied><gap unit="chars" quantity="4"/><lb/>
das Auge? J. <hi rendition="#g">Paul</hi> &#x017F;agt, um von da auf die Kraft <supplied>zu</supplied><gap unit="chars" quantity="5"/><lb/>
&#x017F;ey er&#x017F;t ein Schluß aus Erfahrungen nöthig. Allein dies involvirte<lb/>
und verhüllte Schließen in der Sinnesan&#x017F;chauung darf durchaus keinen<lb/>
An&#x017F;tand begründen, es i&#x017F;t in anderer Wei&#x017F;e mit jeder verbunden und<lb/>
namentlich mit dem blo&#x017F;en Hören, das ja auch ein verhülltes Schließen<lb/>
von dem Schall auf &#x017F;eine Ur&#x017F;ache i&#x017F;t. Es i&#x017F;t &#x017F;elt&#x017F;am, &#x017F;ich durch eine<lb/>
&#x017F;olche Willkür die Aufnahme der be&#x017F;onders furchtbaren Wirkung einer<lb/>
&#x017F;tille heranrückenden Kraft in die vorliegende Sphäre abzu&#x017F;chneiden.<lb/>
Uebrigens i&#x017F;t die Bedeutung, welche das Gehör hier gewinnt, zugleich<lb/>
ein Zeichen, daß wir in einem höheren und mehr innerlichen Gebiete<lb/>
uns befinden.</hi> </p>
                </div><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0256] γ. Das Erhabene der Kraft. §. 95. Das äſthetiſche Geſetz verlangt, indem das Erhabene des Raums und der Zeit ſich als erſchöpft zeigt, eine Form, welche dieſe beiden ebenſoſehr ſetzt und in ſich trägt, als auch über ſie hinaus iſt, indem ſie, während ſie ſich ausdehnt, von ſich als einem inneren Einheitspunkt ausgeht und in ſich bleibt. Dieſe Form iſt die Erſcheinung der Kraft, welche ſich ihr Organ bildet und dadurch den Raum erfüllt, aber, indem ſie ſich weſentlich als Bewegung äußert, den Raum in der Zeit, und ebenſo, da ſie in ihren Wechſeln ſich ſelbſt gleich bleibt, die Zeit überwindet. Dieſe Form iſt nicht mehr blos quantitativ, ſondern qualitativ, doch ſo, daß das Qualitative vorerſt an das Quantitative noch weſentlich gebunden bleibt, indem eines mit dem andern ſteigt und fällt. Als Luſterſchütterung iſt die Bewegung meiſt mit einem Schalle verbunden, daher das dynamiſch Erhabene häufig, doch nicht immer akuſtiſch. Es darf nicht ſchlechthin ausgeſprochen werden, daß die Kraft weſentlich an die eigentliche, ſinnliche Quantität gebunden ſey. Das Verhältniß verändert ſich, wie ſich zeigen wird. — J. Paul will das dynamiſch Erhabene, wie ſchon bemerkt, auf das Akuſtiſche zurückführen. Das Auge, ſagt er, könne nur ein quantitatives Erhabene anſchauen, die Intenſität ſey nicht für daſſelbe. Allein iſt die Straffheit der ruhenden Muskel und das Werk der Kraft, die Bewegung, ni____ das Auge? J. Paul ſagt, um von da auf die Kraft zu_____ ſey erſt ein Schluß aus Erfahrungen nöthig. Allein dies involvirte und verhüllte Schließen in der Sinnesanſchauung darf durchaus keinen Anſtand begründen, es iſt in anderer Weiſe mit jeder verbunden und namentlich mit dem bloſen Hören, das ja auch ein verhülltes Schließen von dem Schall auf ſeine Urſache iſt. Es iſt ſeltſam, ſich durch eine ſolche Willkür die Aufnahme der beſonders furchtbaren Wirkung einer ſtille heranrückenden Kraft in die vorliegende Sphäre abzuſchneiden. Uebrigens iſt die Bedeutung, welche das Gehör hier gewinnt, zugleich ein Zeichen, daß wir in einem höheren und mehr innerlichen Gebiete uns befinden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/256
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/256>, abgerufen am 19.03.2024.