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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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schaudert man mehr vor mystischen Zwergen, als vor einer steilen, offenen
Riesengestalt" (J. Paul a. a. O. §. 24). Es tritt hier durch diese
Umkehrung bereits ein negatives Verhältniß in das Erhabene der Kraft
ein, aber noch nicht in der Beziehung, welche in §. 85 u. 86 ausge-
sprochen ist. Die eigentlich den Unterschied begründende Negativität be-
zieht sich auf den Act der Anwendung und Zurückhaltung der Kraft;
hier ist nur erst von der Stellung der Kraft zum Organe (in Beziehung
auf dessen Masse) im Subjecte der Kraft die Rede. Von jener im
Hauptzusammenhange den Unterschied begründenden Form wird weiter
unten die Rede seyn.

§. 98.

1

Das Verhältniß der Kraft zu ihrem Organe bestimmt sich aber gemäß
dem Satze §. 87, 2 auch zu einem Unterschiede der Form, wobei jene ver-
schiedene Stellung derselben zur Quantität des Organs mitbestimmend wirkt.
2Entweder nämlich durchbricht die Kraft die Harmonie der Form, sey es, daß
die ganze Gattung, sey es, daß ein Individuum der Gattung durch überwie-
gende Ausbildung der Kraft in einzelnen Gliedern ein Mißverhältniß der
Formen darstellt, wodurch einzelne derselben aus der ihnen durch das Ganze
angewiesenen Unterordnung heraustreten und so die Einheit des Gebildes ver-
kehren. Dies ist häßlich, und das Häßliche ist im Schönen zuläßig, wenn es
furchtbar ist (Lessing). Oder aber die Formen bewahren zwar ihre Har-
monie, offenbaren aber, sey es durch den Ausdruck der Intensität, sey es
3durch proportionirte Ausdehnung, außerordentliche Kraft. Derselbe Unterschied
findet sowohl im Ausdruck der möglichen als in der wirklichen Bewegung Statt.
Eine vorzüglich intensive Kraft heißt, wenn sie zu ihrer Verherrlichung andere
werthvolle Naturgegenstände um sich versammelt, prächtig, in ihrer gemäßigten
Bewegung majestätisch, und wenn sie durch diese eine noch höhere Kraft aner-
kennt, feierlich.

1. In dem nun eintretenden Unterschiede der Form ist der Unter-
schied des Verhältnisses der Intensität der Kraft zur Ausdehnung des
Organs mitbestimmend. Die Sache konnte in Kürze nicht anders aus-
gedrückt werden als durch die Worte des §. Eigentlich bestimmend näm-
lich ist er nicht, denn häßlich oder von reiner Form kann das Erhabene
der Kraft sowohl in der unorganischen, als in der vegetabilisch und

ſchaudert man mehr vor myſtiſchen Zwergen, als vor einer ſteilen, offenen
Rieſengeſtalt“ (J. Paul a. a. O. §. 24). Es tritt hier durch dieſe
Umkehrung bereits ein negatives Verhältniß in das Erhabene der Kraft
ein, aber noch nicht in der Beziehung, welche in §. 85 u. 86 ausge-
ſprochen iſt. Die eigentlich den Unterſchied begründende Negativität be-
zieht ſich auf den Act der Anwendung und Zurückhaltung der Kraft;
hier iſt nur erſt von der Stellung der Kraft zum Organe (in Beziehung
auf deſſen Maſſe) im Subjecte der Kraft die Rede. Von jener im
Hauptzuſammenhange den Unterſchied begründenden Form wird weiter
unten die Rede ſeyn.

§. 98.

1

Das Verhältniß der Kraft zu ihrem Organe beſtimmt ſich aber gemäß
dem Satze §. 87, 2 auch zu einem Unterſchiede der Form, wobei jene ver-
ſchiedene Stellung derſelben zur Quantität des Organs mitbeſtimmend wirkt.
2Entweder nämlich durchbricht die Kraft die Harmonie der Form, ſey es, daß
die ganze Gattung, ſey es, daß ein Individuum der Gattung durch überwie-
gende Ausbildung der Kraft in einzelnen Gliedern ein Mißverhältniß der
Formen darſtellt, wodurch einzelne derſelben aus der ihnen durch das Ganze
angewieſenen Unterordnung heraustreten und ſo die Einheit des Gebildes ver-
kehren. Dies iſt häßlich, und das Häßliche iſt im Schönen zuläßig, wenn es
furchtbar iſt (Leſſing). Oder aber die Formen bewahren zwar ihre Har-
monie, offenbaren aber, ſey es durch den Ausdruck der Intenſität, ſey es
3durch proportionirte Ausdehnung, außerordentliche Kraft. Derſelbe Unterſchied
findet ſowohl im Ausdruck der möglichen als in der wirklichen Bewegung Statt.
Eine vorzüglich intenſive Kraft heißt, wenn ſie zu ihrer Verherrlichung andere
werthvolle Naturgegenſtände um ſich verſammelt, prächtig, in ihrer gemäßigten
Bewegung majeſtätiſch, und wenn ſie durch dieſe eine noch höhere Kraft aner-
kennt, feierlich.

1. In dem nun eintretenden Unterſchiede der Form iſt der Unter-
ſchied des Verhältniſſes der Intenſität der Kraft zur Ausdehnung des
Organs mitbeſtimmend. Die Sache konnte in Kürze nicht anders aus-
gedrückt werden als durch die Worte des §. Eigentlich beſtimmend näm-
lich iſt er nicht, denn häßlich oder von reiner Form kann das Erhabene
der Kraft ſowohl in der unorganiſchen, als in der vegetabiliſch und

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[246/0260] ſchaudert man mehr vor myſtiſchen Zwergen, als vor einer ſteilen, offenen Rieſengeſtalt“ (J. Paul a. a. O. §. 24). Es tritt hier durch dieſe Umkehrung bereits ein negatives Verhältniß in das Erhabene der Kraft ein, aber noch nicht in der Beziehung, welche in §. 85 u. 86 ausge- ſprochen iſt. Die eigentlich den Unterſchied begründende Negativität be- zieht ſich auf den Act der Anwendung und Zurückhaltung der Kraft; hier iſt nur erſt von der Stellung der Kraft zum Organe (in Beziehung auf deſſen Maſſe) im Subjecte der Kraft die Rede. Von jener im Hauptzuſammenhange den Unterſchied begründenden Form wird weiter unten die Rede ſeyn. §. 98. Das Verhältniß der Kraft zu ihrem Organe beſtimmt ſich aber gemäß dem Satze §. 87, 2 auch zu einem Unterſchiede der Form, wobei jene ver- ſchiedene Stellung derſelben zur Quantität des Organs mitbeſtimmend wirkt. Entweder nämlich durchbricht die Kraft die Harmonie der Form, ſey es, daß die ganze Gattung, ſey es, daß ein Individuum der Gattung durch überwie- gende Ausbildung der Kraft in einzelnen Gliedern ein Mißverhältniß der Formen darſtellt, wodurch einzelne derſelben aus der ihnen durch das Ganze angewieſenen Unterordnung heraustreten und ſo die Einheit des Gebildes ver- kehren. Dies iſt häßlich, und das Häßliche iſt im Schönen zuläßig, wenn es furchtbar iſt (Leſſing). Oder aber die Formen bewahren zwar ihre Har- monie, offenbaren aber, ſey es durch den Ausdruck der Intenſität, ſey es durch proportionirte Ausdehnung, außerordentliche Kraft. Derſelbe Unterſchied findet ſowohl im Ausdruck der möglichen als in der wirklichen Bewegung Statt. Eine vorzüglich intenſive Kraft heißt, wenn ſie zu ihrer Verherrlichung andere werthvolle Naturgegenſtände um ſich verſammelt, prächtig, in ihrer gemäßigten Bewegung majeſtätiſch, und wenn ſie durch dieſe eine noch höhere Kraft aner- kennt, feierlich. 1. In dem nun eintretenden Unterſchiede der Form iſt der Unter- ſchied des Verhältniſſes der Intenſität der Kraft zur Ausdehnung des Organs mitbeſtimmend. Die Sache konnte in Kürze nicht anders aus- gedrückt werden als durch die Worte des §. Eigentlich beſtimmend näm- lich iſt er nicht, denn häßlich oder von reiner Form kann das Erhabene der Kraft ſowohl in der unorganiſchen, als in der vegetabiliſch und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/260>, abgerufen am 19.03.2024.