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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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b.
Das Erhabene des Subjects.
§. 103.

Die Negation im objectiv Erhabenen (§. 92. 94. 100) erscheint also jetzt
als eine Negation des objectiv Erhabenen und diese Negation ist das sich als
ideelle Einheit des Ich setzende Subject. In dieser ideellen Einheit ist das
unendliche Außer- und Nebeneinander der endlichen Dinge zum Insichseyn auf-
gehoben. Das Ich erscheint, es ist in Raum und Zeit gestellt, aber so mit der
Endlichkeit behaftet, ist es als wahre Unendlichkeit zugleich über sie hinaus, es
unterscheidet sich in sich selbst, geht erkennend und handelnd aus sich heraus,
bleibt aber in seinen Unterschieden und Aeußerungen immer bei sich, sein
eigener selbstbewußter Grund, der wissend von sich aus und in sich zurückgeht.
Unter den Thätigkeiten des Ich kommt aber nur der Wille in Betracht; die
Intelligenz kann die Erscheinung der Erhabenheit nicht begründen, außer sofern
sie die gesammte persönliche Erscheinung, das Wollen und seine Folgen bedingt.

Der Zweifler, der Philosoph, auch der praktische Mensch, sofern sein
Werk den abstracten Charakter der Verständigkeit und des Denkens trägt,
sind an sich keine ästhetische Erscheinung, denn das Schöne fordert An-
schauung, das Denken aber ist rein innerlich und darum -- im ästhetischen
Zusammenhang -- abstract. Dies muß in der Lehre vom Erhabenen
ausdrücklich hervorgehoben werden, was in der Lehre vom Schönen nicht
vonnöthen war. Denn auch hier gilt es, daß erst, wenn Geist und Natur
in ein negatives Verhältniß zu einander treten, die Forderung entsteht,
daß man untersuche, ob nicht das eine oder andere Moment fehle. So
mußte in der Lehre vom objectiv Erhabenen gefragt werden, ob der Geist
nicht fehle, so hier, ob die Natur vorhanden sey. Das Denken ist aber zu
naturlos. Erst, wenn es der Gestalt den Charakter seiner Tiefe aufdrückt,
Affecte hervorruft, in die Gesinnung übergeht und das Handeln, dadurch
aber das persönliche Schicksal bestimmt, wird es ästhetisch. Hamlet,
Faust, Sokrates, Spinoza
sind nur dadurch ästhetische Erscheinungen.
Der Wissensdurst ist der eben bezeichnete Affect; die Sage von Empe-
dokles
, daß er sich in den Aetna gestürzt habe, um sich der dunkeln Natur-
kraft zu vermählen, von Aristoteles, daß er seinen Tod im Euripus

b.
Das Erhabene des Subjects.
§. 103.

Die Negation im objectiv Erhabenen (§. 92. 94. 100) erſcheint alſo jetzt
als eine Negation des objectiv Erhabenen und dieſe Negation iſt das ſich als
ideelle Einheit des Ich ſetzende Subject. In dieſer ideellen Einheit iſt das
unendliche Außer- und Nebeneinander der endlichen Dinge zum Inſichſeyn auf-
gehoben. Das Ich erſcheint, es iſt in Raum und Zeit geſtellt, aber ſo mit der
Endlichkeit behaftet, iſt es als wahre Unendlichkeit zugleich über ſie hinaus, es
unterſcheidet ſich in ſich ſelbſt, geht erkennend und handelnd aus ſich heraus,
bleibt aber in ſeinen Unterſchieden und Aeußerungen immer bei ſich, ſein
eigener ſelbſtbewußter Grund, der wiſſend von ſich aus und in ſich zurückgeht.
Unter den Thätigkeiten des Ich kommt aber nur der Wille in Betracht; die
Intelligenz kann die Erſcheinung der Erhabenheit nicht begründen, außer ſofern
ſie die geſammte perſönliche Erſcheinung, das Wollen und ſeine Folgen bedingt.

Der Zweifler, der Philoſoph, auch der praktiſche Menſch, ſofern ſein
Werk den abſtracten Charakter der Verſtändigkeit und des Denkens trägt,
ſind an ſich keine äſthetiſche Erſcheinung, denn das Schöne fordert An-
ſchauung, das Denken aber iſt rein innerlich und darum — im äſthetiſchen
Zuſammenhang — abſtract. Dies muß in der Lehre vom Erhabenen
ausdrücklich hervorgehoben werden, was in der Lehre vom Schönen nicht
vonnöthen war. Denn auch hier gilt es, daß erſt, wenn Geiſt und Natur
in ein negatives Verhältniß zu einander treten, die Forderung entſteht,
daß man unterſuche, ob nicht das eine oder andere Moment fehle. So
mußte in der Lehre vom objectiv Erhabenen gefragt werden, ob der Geiſt
nicht fehle, ſo hier, ob die Natur vorhanden ſey. Das Denken iſt aber zu
naturlos. Erſt, wenn es der Geſtalt den Charakter ſeiner Tiefe aufdrückt,
Affecte hervorruft, in die Geſinnung übergeht und das Handeln, dadurch
aber das perſönliche Schickſal beſtimmt, wird es äſthetiſch. Hamlet,
Fauſt, Sokrates, Spinoza
ſind nur dadurch äſthetiſche Erſcheinungen.
Der Wiſſensdurſt iſt der eben bezeichnete Affect; die Sage von Empe-
dokles
, daß er ſich in den Aetna geſtürzt habe, um ſich der dunkeln Natur-
kraft zu vermählen, von Ariſtoteles, daß er ſeinen Tod im Euripus

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[255/0269] b. Das Erhabene des Subjects. §. 103. Die Negation im objectiv Erhabenen (§. 92. 94. 100) erſcheint alſo jetzt als eine Negation des objectiv Erhabenen und dieſe Negation iſt das ſich als ideelle Einheit des Ich ſetzende Subject. In dieſer ideellen Einheit iſt das unendliche Außer- und Nebeneinander der endlichen Dinge zum Inſichſeyn auf- gehoben. Das Ich erſcheint, es iſt in Raum und Zeit geſtellt, aber ſo mit der Endlichkeit behaftet, iſt es als wahre Unendlichkeit zugleich über ſie hinaus, es unterſcheidet ſich in ſich ſelbſt, geht erkennend und handelnd aus ſich heraus, bleibt aber in ſeinen Unterſchieden und Aeußerungen immer bei ſich, ſein eigener ſelbſtbewußter Grund, der wiſſend von ſich aus und in ſich zurückgeht. Unter den Thätigkeiten des Ich kommt aber nur der Wille in Betracht; die Intelligenz kann die Erſcheinung der Erhabenheit nicht begründen, außer ſofern ſie die geſammte perſönliche Erſcheinung, das Wollen und ſeine Folgen bedingt. Der Zweifler, der Philoſoph, auch der praktiſche Menſch, ſofern ſein Werk den abſtracten Charakter der Verſtändigkeit und des Denkens trägt, ſind an ſich keine äſthetiſche Erſcheinung, denn das Schöne fordert An- ſchauung, das Denken aber iſt rein innerlich und darum — im äſthetiſchen Zuſammenhang — abſtract. Dies muß in der Lehre vom Erhabenen ausdrücklich hervorgehoben werden, was in der Lehre vom Schönen nicht vonnöthen war. Denn auch hier gilt es, daß erſt, wenn Geiſt und Natur in ein negatives Verhältniß zu einander treten, die Forderung entſteht, daß man unterſuche, ob nicht das eine oder andere Moment fehle. So mußte in der Lehre vom objectiv Erhabenen gefragt werden, ob der Geiſt nicht fehle, ſo hier, ob die Natur vorhanden ſey. Das Denken iſt aber zu naturlos. Erſt, wenn es der Geſtalt den Charakter ſeiner Tiefe aufdrückt, Affecte hervorruft, in die Geſinnung übergeht und das Handeln, dadurch aber das perſönliche Schickſal beſtimmt, wird es äſthetiſch. Hamlet, Fauſt, Sokrates, Spinoza ſind nur dadurch äſthetiſche Erſcheinungen. Der Wiſſensdurſt iſt der eben bezeichnete Affect; die Sage von Empe- dokles, daß er ſich in den Aetna geſtürzt habe, um ſich der dunkeln Natur- kraft zu vermählen, von Ariſtoteles, daß er ſeinen Tod im Euripus

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/269>, abgerufen am 19.03.2024.