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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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gesucht, weil er seine Strömung nicht begreifen konnte, nicht aber das reine
Denken dieser Philosophen ist ästhetisch.

§. 104.

1

Erhaben erscheint ein Subject, wenn es durch die Macht seines Willens
die umgebenden Subjecte so weit übertrifft, daß seine eigene, obwohl sie be-
grenzt ist, in das Unbegrenzte zu steigen scheint. Wahre Unendlichkeit ist
nämlich allerdings schlechtweg im Subjecte als solchem und insofern ist hier die
Kategorie der Quantität ganz überwunden. Allein das Endliche, womit das
Subject behaftet ist, setzt sich in diese Unendlichkeit selbst fort und bringt
Unterschiede des Maßes herein, welche der Wille zwar zu den seinigen er-
heben und bis an eine gewisse Grenze selbst überbieten kann, aber nur so, daß
dadurch gerade eine neue Maßbestimmung entsteht. Im Erhabenen des Sub-
jects nun erscheint dieses Maß zugleich als gesetzt und, in der Vergleichung
2mit dem Maß des Willens in andern Subjecten, als aufgehoben. Außer dieser
Vergleichung würde, wenn die Bedingungen dazu vorhanden sind, das erhabene
Subject als schön erscheinen, diese aber bringt den Gegensatz herein, der das
Erhabene begründet.

1. Der Wille ist seinem Wesen nach unendlich und darin jedes Subject
dem andern gleich. Der innere Widerspruch des einzelnen Subjects aber --
den als solchen eine höhere Form des Erhabenen aufdecken wird -- ist
eben der, daß die Natur, über die es hinaus ist, ebensosehr sich in es
fortsetzt und darum auch die Bestimmung der Quantität hineinträgt.
Die Unterschiede der Quantität sind zunächst Naturgrundlage; der Eine
hat mehr, der Andere weniger Energie, Tiefe und Umfang des Willens
(wobei freilich auch die Intelligenz wesentlich ist, aber nicht für sich,
sondern eben, wie sie in Willen übergeht). Allerdings werden diese
Unterschiede erst geistig, wenn sie der Wille zu den seinigen erhebt und
frei setzt; er kann sie bis an eine Grenze (denn ganz kann Keiner über
sich hinaus) noch überbieten: aber dadurch entstehen neue Maß-Unterschiede.
Denn wer sich selbst bezwingt und mehr aus sich macht, als die Natur
in ihn gelegt zu haben scheint, zeigt ebendadurch mehr Willen, als wer
sich in dem Maße des Angeborenen bewegt oder unter dasselbe sinkt.
Es beginnt zwar hier schon der Begriff der Schuld, aber diese selbst
hat Grade.


geſucht, weil er ſeine Strömung nicht begreifen konnte, nicht aber das reine
Denken dieſer Philoſophen iſt äſthetiſch.

§. 104.

1

Erhaben erſcheint ein Subject, wenn es durch die Macht ſeines Willens
die umgebenden Subjecte ſo weit übertrifft, daß ſeine eigene, obwohl ſie be-
grenzt iſt, in das Unbegrenzte zu ſteigen ſcheint. Wahre Unendlichkeit iſt
nämlich allerdings ſchlechtweg im Subjecte als ſolchem und inſofern iſt hier die
Kategorie der Quantität ganz überwunden. Allein das Endliche, womit das
Subject behaftet iſt, ſetzt ſich in dieſe Unendlichkeit ſelbſt fort und bringt
Unterſchiede des Maßes herein, welche der Wille zwar zu den ſeinigen er-
heben und bis an eine gewiſſe Grenze ſelbſt überbieten kann, aber nur ſo, daß
dadurch gerade eine neue Maßbeſtimmung entſteht. Im Erhabenen des Sub-
jects nun erſcheint dieſes Maß zugleich als geſetzt und, in der Vergleichung
2mit dem Maß des Willens in andern Subjecten, als aufgehoben. Außer dieſer
Vergleichung würde, wenn die Bedingungen dazu vorhanden ſind, das erhabene
Subject als ſchön erſcheinen, dieſe aber bringt den Gegenſatz herein, der das
Erhabene begründet.

1. Der Wille iſt ſeinem Weſen nach unendlich und darin jedes Subject
dem andern gleich. Der innere Widerſpruch des einzelnen Subjects aber —
den als ſolchen eine höhere Form des Erhabenen aufdecken wird — iſt
eben der, daß die Natur, über die es hinaus iſt, ebenſoſehr ſich in es
fortſetzt und darum auch die Beſtimmung der Quantität hineinträgt.
Die Unterſchiede der Quantität ſind zunächſt Naturgrundlage; der Eine
hat mehr, der Andere weniger Energie, Tiefe und Umfang des Willens
(wobei freilich auch die Intelligenz weſentlich iſt, aber nicht für ſich,
ſondern eben, wie ſie in Willen übergeht). Allerdings werden dieſe
Unterſchiede erſt geiſtig, wenn ſie der Wille zu den ſeinigen erhebt und
frei ſetzt; er kann ſie bis an eine Grenze (denn ganz kann Keiner über
ſich hinaus) noch überbieten: aber dadurch entſtehen neue Maß-Unterſchiede.
Denn wer ſich ſelbſt bezwingt und mehr aus ſich macht, als die Natur
in ihn gelegt zu haben ſcheint, zeigt ebendadurch mehr Willen, als wer
ſich in dem Maße des Angeborenen bewegt oder unter dasſelbe ſinkt.
Es beginnt zwar hier ſchon der Begriff der Schuld, aber dieſe ſelbſt
hat Grade.


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[256/0270] geſucht, weil er ſeine Strömung nicht begreifen konnte, nicht aber das reine Denken dieſer Philoſophen iſt äſthetiſch. §. 104. Erhaben erſcheint ein Subject, wenn es durch die Macht ſeines Willens die umgebenden Subjecte ſo weit übertrifft, daß ſeine eigene, obwohl ſie be- grenzt iſt, in das Unbegrenzte zu ſteigen ſcheint. Wahre Unendlichkeit iſt nämlich allerdings ſchlechtweg im Subjecte als ſolchem und inſofern iſt hier die Kategorie der Quantität ganz überwunden. Allein das Endliche, womit das Subject behaftet iſt, ſetzt ſich in dieſe Unendlichkeit ſelbſt fort und bringt Unterſchiede des Maßes herein, welche der Wille zwar zu den ſeinigen er- heben und bis an eine gewiſſe Grenze ſelbſt überbieten kann, aber nur ſo, daß dadurch gerade eine neue Maßbeſtimmung entſteht. Im Erhabenen des Sub- jects nun erſcheint dieſes Maß zugleich als geſetzt und, in der Vergleichung mit dem Maß des Willens in andern Subjecten, als aufgehoben. Außer dieſer Vergleichung würde, wenn die Bedingungen dazu vorhanden ſind, das erhabene Subject als ſchön erſcheinen, dieſe aber bringt den Gegenſatz herein, der das Erhabene begründet. 1. Der Wille iſt ſeinem Weſen nach unendlich und darin jedes Subject dem andern gleich. Der innere Widerſpruch des einzelnen Subjects aber — den als ſolchen eine höhere Form des Erhabenen aufdecken wird — iſt eben der, daß die Natur, über die es hinaus iſt, ebenſoſehr ſich in es fortſetzt und darum auch die Beſtimmung der Quantität hineinträgt. Die Unterſchiede der Quantität ſind zunächſt Naturgrundlage; der Eine hat mehr, der Andere weniger Energie, Tiefe und Umfang des Willens (wobei freilich auch die Intelligenz weſentlich iſt, aber nicht für ſich, ſondern eben, wie ſie in Willen übergeht). Allerdings werden dieſe Unterſchiede erſt geiſtig, wenn ſie der Wille zu den ſeinigen erhebt und frei ſetzt; er kann ſie bis an eine Grenze (denn ganz kann Keiner über ſich hinaus) noch überbieten: aber dadurch entſtehen neue Maß-Unterſchiede. Denn wer ſich ſelbſt bezwingt und mehr aus ſich macht, als die Natur in ihn gelegt zu haben ſcheint, zeigt ebendadurch mehr Willen, als wer ſich in dem Maße des Angeborenen bewegt oder unter dasſelbe ſinkt. Es beginnt zwar hier ſchon der Begriff der Schuld, aber dieſe ſelbſt hat Grade.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/270>, abgerufen am 19.03.2024.