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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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der furchtbare Ausbruch Northumberlands in Heinrich IV, den die Schrift
über das Erh. und Kom. (S. 78) als Beleg der positiven Form
innerhalb der Sphäre des negativ Pathetischen angeführt hat, gehört
vielmehr hieher. Diese Wuth ist nämlich zwar als Erhebung aus einem
niederschlagenden Affect zunächst sittlich in ihrem Ursprung, wird aber
blind, erprobt sich nachher nicht als standhafte Tapferkeit, bleibt jedoch
erhaben gerade nur durch die glühende Kraft ihres Ausbruchs, wobei
von jenem Ursprung und diesem Ausgang abstrahirt wird. Griechisch
wäre diese Form thnmos zu nennen. Ihre Hauptform ist die Kraft des
Zorns. Selbst die Liebe als blinde Leidenschaft, worin Geist und Sinne
aufgehen, setzt Hindernisse voraus und ist nach dieser Seite ein Zorn. Der Zorn
ist drohend, auf Hindernisse zerstörend gerichtet, daher diese Form wesent-
lich furchtbar. Der ganze Eindruck schwankt zwischen dem elementarischen,
den das Erhabene der Natur, und dem geistigen, dem das höher Er-
habene des Subjects erregt. Das Massenhafte ist von großer Bedeutung.
Wilder Angriff kriegerischer Massen, empörte Volkshaufen, ihr dunkles
Summen und Lärmen. Schlachten gehören hieher, sofern von einer sitt-
lichen Begeisterung der Massen und von der Intelligenz der Taktik ab-
gesehen wird.

§. 106.

1

Wird aber die Leidenschaft zu einem die ganze Subjectivität bestimmen-
den und bleibenden Zustande und verliert diese dadurch ihre geistige Allge-
meinheit unter der Versenkung in ein Einzelnes, so kann sie dabei noch furcht-
bar seyn, aber der Zuschauer besinnt sich auf die reine Freiheit des Willens
2und die Erscheinung wird aus einer erhabenen zu einer häßlichen. Die reine
Freiheit nun, wenn sie der ästhetischen Forderung entgegentritt, ist, noch un-
vereinigt mit der sinnlichen Kraft und Fülle der Leidenschaft, eine abstracte
und geht zunächst in schwankendem Wechsel neben der unfreien Bestimmtheit der
Leidenschaft her. Die Erscheinung dieses unsteten Willens kann nur im Zu-
sammenhange und Contraste mit höheren Formen des Willens ein ästhetischer
Gegenstand seyn.

1. Man wird finden, daß die Hauptstufen des Willens, wie die Ethik sie
entwickelt, hier auftreten. Allein unser Zusammenhang ist der ästhetische,
der Uebergang je zu einer weiteren Form muß als eine Forderung vom
Standpunkte des Schönen erscheinen; daher kann hier keine Verpflichtung

der furchtbare Ausbruch Northumberlands in Heinrich IV, den die Schrift
über das Erh. und Kom. (S. 78) als Beleg der poſitiven Form
innerhalb der Sphäre des negativ Pathetiſchen angeführt hat, gehört
vielmehr hieher. Dieſe Wuth iſt nämlich zwar als Erhebung aus einem
niederſchlagenden Affect zunächſt ſittlich in ihrem Urſprung, wird aber
blind, erprobt ſich nachher nicht als ſtandhafte Tapferkeit, bleibt jedoch
erhaben gerade nur durch die glühende Kraft ihres Ausbruchs, wobei
von jenem Urſprung und dieſem Ausgang abſtrahirt wird. Griechiſch
wäre dieſe Form ϑνμὸς zu nennen. Ihre Hauptform iſt die Kraft des
Zorns. Selbſt die Liebe als blinde Leidenſchaft, worin Geiſt und Sinne
aufgehen, ſetzt Hinderniſſe voraus und iſt nach dieſer Seite ein Zorn. Der Zorn
iſt drohend, auf Hinderniſſe zerſtörend gerichtet, daher dieſe Form weſent-
lich furchtbar. Der ganze Eindruck ſchwankt zwiſchen dem elementariſchen,
den das Erhabene der Natur, und dem geiſtigen, dem das höher Er-
habene des Subjects erregt. Das Maſſenhafte iſt von großer Bedeutung.
Wilder Angriff kriegeriſcher Maſſen, empörte Volkshaufen, ihr dunkles
Summen und Lärmen. Schlachten gehören hieher, ſofern von einer ſitt-
lichen Begeiſterung der Maſſen und von der Intelligenz der Taktik ab-
geſehen wird.

§. 106.

1

Wird aber die Leidenſchaft zu einem die ganze Subjectivität beſtimmen-
den und bleibenden Zuſtande und verliert dieſe dadurch ihre geiſtige Allge-
meinheit unter der Verſenkung in ein Einzelnes, ſo kann ſie dabei noch furcht-
bar ſeyn, aber der Zuſchauer beſinnt ſich auf die reine Freiheit des Willens
2und die Erſcheinung wird aus einer erhabenen zu einer häßlichen. Die reine
Freiheit nun, wenn ſie der äſthetiſchen Forderung entgegentritt, iſt, noch un-
vereinigt mit der ſinnlichen Kraft und Fülle der Leidenſchaft, eine abſtracte
und geht zunächſt in ſchwankendem Wechſel neben der unfreien Beſtimmtheit der
Leidenſchaft her. Die Erſcheinung dieſes unſteten Willens kann nur im Zu-
ſammenhange und Contraſte mit höheren Formen des Willens ein äſthetiſcher
Gegenſtand ſeyn.

1. Man wird finden, daß die Hauptſtufen des Willens, wie die Ethik ſie
entwickelt, hier auftreten. Allein unſer Zuſammenhang iſt der äſthetiſche,
der Uebergang je zu einer weiteren Form muß als eine Forderung vom
Standpunkte des Schönen erſcheinen; daher kann hier keine Verpflichtung

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[258/0272] der furchtbare Ausbruch Northumberlands in Heinrich IV, den die Schrift über das Erh. und Kom. (S. 78) als Beleg der poſitiven Form innerhalb der Sphäre des negativ Pathetiſchen angeführt hat, gehört vielmehr hieher. Dieſe Wuth iſt nämlich zwar als Erhebung aus einem niederſchlagenden Affect zunächſt ſittlich in ihrem Urſprung, wird aber blind, erprobt ſich nachher nicht als ſtandhafte Tapferkeit, bleibt jedoch erhaben gerade nur durch die glühende Kraft ihres Ausbruchs, wobei von jenem Urſprung und dieſem Ausgang abſtrahirt wird. Griechiſch wäre dieſe Form ϑνμὸς zu nennen. Ihre Hauptform iſt die Kraft des Zorns. Selbſt die Liebe als blinde Leidenſchaft, worin Geiſt und Sinne aufgehen, ſetzt Hinderniſſe voraus und iſt nach dieſer Seite ein Zorn. Der Zorn iſt drohend, auf Hinderniſſe zerſtörend gerichtet, daher dieſe Form weſent- lich furchtbar. Der ganze Eindruck ſchwankt zwiſchen dem elementariſchen, den das Erhabene der Natur, und dem geiſtigen, dem das höher Er- habene des Subjects erregt. Das Maſſenhafte iſt von großer Bedeutung. Wilder Angriff kriegeriſcher Maſſen, empörte Volkshaufen, ihr dunkles Summen und Lärmen. Schlachten gehören hieher, ſofern von einer ſitt- lichen Begeiſterung der Maſſen und von der Intelligenz der Taktik ab- geſehen wird. §. 106. Wird aber die Leidenſchaft zu einem die ganze Subjectivität beſtimmen- den und bleibenden Zuſtande und verliert dieſe dadurch ihre geiſtige Allge- meinheit unter der Verſenkung in ein Einzelnes, ſo kann ſie dabei noch furcht- bar ſeyn, aber der Zuſchauer beſinnt ſich auf die reine Freiheit des Willens und die Erſcheinung wird aus einer erhabenen zu einer häßlichen. Die reine Freiheit nun, wenn ſie der äſthetiſchen Forderung entgegentritt, iſt, noch un- vereinigt mit der ſinnlichen Kraft und Fülle der Leidenſchaft, eine abſtracte und geht zunächſt in ſchwankendem Wechſel neben der unfreien Beſtimmtheit der Leidenſchaft her. Die Erſcheinung dieſes unſteten Willens kann nur im Zu- ſammenhange und Contraſte mit höheren Formen des Willens ein äſthetiſcher Gegenſtand ſeyn. 1. Man wird finden, daß die Hauptſtufen des Willens, wie die Ethik ſie entwickelt, hier auftreten. Allein unſer Zuſammenhang iſt der äſthetiſche, der Uebergang je zu einer weiteren Form muß als eine Forderung vom Standpunkte des Schönen erſcheinen; daher kann hier keine Verpflichtung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/272>, abgerufen am 19.03.2024.