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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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punkt, der zu einer unendlichen Steigerung führt, welche aber sich selbst
aufhebt und einer ganz anderen Form des Erhabenen, eben dem Tragi-
schen, Platz macht.

2. Im Erhabenen der Leidenschaft war, wie im Erhabenen der
Kraft, das Gewicht der Masse von Wichtigkeit, das Böse in seiner
Abstractheit war einsam, das Gute aber wirkt wieder durch Masse und
Vielheit, und zwar nicht nur, weil es die sinnliche Kraft und den Nach-
druck der Leidenschaft in den Dienst des sittlichen Mittelpunkts zieht, um
mit so verstärkten Waffen für ihn zu kämpfen, sondern auch weil der
geistige Zweck selbst sich reinigt und die Kraft der Nothwendigkeit ge-
winnt, wenn er von Vielen gewollt wird. Eine Idee dringt nicht durch,
so lange nicht der vereinzelte Vorkämpfer das allgemeine Bedürfniß zum
Hinterhalt hat; man denke nur an die Reformation. Dies macht sich
in allen Verbindungen, Volksversammlungen u. s. w. geltend, wo auch
ohne eine eigentliche That die imponirende und nöthigende Kraft der All-
gemeinheit durch die Demonstration selbst wirkt. Im concreten Ausdruck
heißt hier die Vielheit sittlicher Volkswille, die Betrachtung hat sich aber
noch in allgemeinen Kategorien zu halten.

§. 116.

In Wahrheit aber hebt sich durch beide Bewegungen, sowohl durch die
des unendlichen Aufsteigens, als auch durch die des Ausdehnens über Viele,
das subjectiv Erhabene auf. Läßt sich nämlich über jedes sittlich erhabene Sub-
ject ein erhabeneres vorstellen, so ist kein einzelnes Subject wahrhaft sittlich
erhaben; gewinnt das Gute an Macht und Bedeutung in dem Grade, in welchem
es zur Gemeinschaft vieler Subjecte wird, so sind es eben die Grenzen der
Subjectivität, die sich in diesem Verhältnisse gegenseitiger Ergänzung aufheben.
Der in §. 103 und 110 aufgestellte Widerspruch der Unendlichkeit und End-
lichkeit im Subjecte, der Einzelheit desselben mit der Allgemeinheit seines
zwar bestimmten sittlichen Pathos, sowie des letzteren mit dem Inbegriff aller
sittlichen Ideen, ein Widerspruch, der aber in der Sphäre des subjectiv Er-
habenen noch nicht zum Ausbruch kam, tritt in Kraft und es wird offenbar,
daß das Subject in seiner Erhabenheit mehr ist als es selbst.

Die hier ausgesprochene, ganz einfache Dialektik in dem Erhabenen
des Subjects wird völlig verkannt, wenn man die sogenannten voll-
kommenen Charaktere oder Ideale in der Poesie in Schutz nimmt, wie

punkt, der zu einer unendlichen Steigerung führt, welche aber ſich ſelbſt
aufhebt und einer ganz anderen Form des Erhabenen, eben dem Tragi-
ſchen, Platz macht.

2. Im Erhabenen der Leidenſchaft war, wie im Erhabenen der
Kraft, das Gewicht der Maſſe von Wichtigkeit, das Böſe in ſeiner
Abſtractheit war einſam, das Gute aber wirkt wieder durch Maſſe und
Vielheit, und zwar nicht nur, weil es die ſinnliche Kraft und den Nach-
druck der Leidenſchaft in den Dienſt des ſittlichen Mittelpunkts zieht, um
mit ſo verſtärkten Waffen für ihn zu kämpfen, ſondern auch weil der
geiſtige Zweck ſelbſt ſich reinigt und die Kraft der Nothwendigkeit ge-
winnt, wenn er von Vielen gewollt wird. Eine Idee dringt nicht durch,
ſo lange nicht der vereinzelte Vorkämpfer das allgemeine Bedürfniß zum
Hinterhalt hat; man denke nur an die Reformation. Dies macht ſich
in allen Verbindungen, Volksverſammlungen u. ſ. w. geltend, wo auch
ohne eine eigentliche That die imponirende und nöthigende Kraft der All-
gemeinheit durch die Demonſtration ſelbſt wirkt. Im concreten Ausdruck
heißt hier die Vielheit ſittlicher Volkswille, die Betrachtung hat ſich aber
noch in allgemeinen Kategorien zu halten.

§. 116.

In Wahrheit aber hebt ſich durch beide Bewegungen, ſowohl durch die
des unendlichen Aufſteigens, als auch durch die des Ausdehnens über Viele,
das ſubjectiv Erhabene auf. Läßt ſich nämlich über jedes ſittlich erhabene Sub-
ject ein erhabeneres vorſtellen, ſo iſt kein einzelnes Subject wahrhaft ſittlich
erhaben; gewinnt das Gute an Macht und Bedeutung in dem Grade, in welchem
es zur Gemeinſchaft vieler Subjecte wird, ſo ſind es eben die Grenzen der
Subjectivität, die ſich in dieſem Verhältniſſe gegenſeitiger Ergänzung aufheben.
Der in §. 103 und 110 aufgeſtellte Widerſpruch der Unendlichkeit und End-
lichkeit im Subjecte, der Einzelheit desſelben mit der Allgemeinheit ſeines
zwar beſtimmten ſittlichen Pathos, ſowie des letzteren mit dem Inbegriff aller
ſittlichen Ideen, ein Widerſpruch, der aber in der Sphäre des ſubjectiv Er-
habenen noch nicht zum Ausbruch kam, tritt in Kraft und es wird offenbar,
daß das Subject in ſeiner Erhabenheit mehr iſt als es ſelbſt.

Die hier ausgeſprochene, ganz einfache Dialektik in dem Erhabenen
des Subjects wird völlig verkannt, wenn man die ſogenannten voll-
kommenen Charaktere oder Ideale in der Poeſie in Schutz nimmt, wie

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[274/0288] punkt, der zu einer unendlichen Steigerung führt, welche aber ſich ſelbſt aufhebt und einer ganz anderen Form des Erhabenen, eben dem Tragi- ſchen, Platz macht. 2. Im Erhabenen der Leidenſchaft war, wie im Erhabenen der Kraft, das Gewicht der Maſſe von Wichtigkeit, das Böſe in ſeiner Abſtractheit war einſam, das Gute aber wirkt wieder durch Maſſe und Vielheit, und zwar nicht nur, weil es die ſinnliche Kraft und den Nach- druck der Leidenſchaft in den Dienſt des ſittlichen Mittelpunkts zieht, um mit ſo verſtärkten Waffen für ihn zu kämpfen, ſondern auch weil der geiſtige Zweck ſelbſt ſich reinigt und die Kraft der Nothwendigkeit ge- winnt, wenn er von Vielen gewollt wird. Eine Idee dringt nicht durch, ſo lange nicht der vereinzelte Vorkämpfer das allgemeine Bedürfniß zum Hinterhalt hat; man denke nur an die Reformation. Dies macht ſich in allen Verbindungen, Volksverſammlungen u. ſ. w. geltend, wo auch ohne eine eigentliche That die imponirende und nöthigende Kraft der All- gemeinheit durch die Demonſtration ſelbſt wirkt. Im concreten Ausdruck heißt hier die Vielheit ſittlicher Volkswille, die Betrachtung hat ſich aber noch in allgemeinen Kategorien zu halten. §. 116. In Wahrheit aber hebt ſich durch beide Bewegungen, ſowohl durch die des unendlichen Aufſteigens, als auch durch die des Ausdehnens über Viele, das ſubjectiv Erhabene auf. Läßt ſich nämlich über jedes ſittlich erhabene Sub- ject ein erhabeneres vorſtellen, ſo iſt kein einzelnes Subject wahrhaft ſittlich erhaben; gewinnt das Gute an Macht und Bedeutung in dem Grade, in welchem es zur Gemeinſchaft vieler Subjecte wird, ſo ſind es eben die Grenzen der Subjectivität, die ſich in dieſem Verhältniſſe gegenſeitiger Ergänzung aufheben. Der in §. 103 und 110 aufgeſtellte Widerſpruch der Unendlichkeit und End- lichkeit im Subjecte, der Einzelheit desſelben mit der Allgemeinheit ſeines zwar beſtimmten ſittlichen Pathos, ſowie des letzteren mit dem Inbegriff aller ſittlichen Ideen, ein Widerſpruch, der aber in der Sphäre des ſubjectiv Er- habenen noch nicht zum Ausbruch kam, tritt in Kraft und es wird offenbar, daß das Subject in ſeiner Erhabenheit mehr iſt als es ſelbſt. Die hier ausgeſprochene, ganz einfache Dialektik in dem Erhabenen des Subjects wird völlig verkannt, wenn man die ſogenannten voll- kommenen Charaktere oder Ideale in der Poeſie in Schutz nimmt, wie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/288>, abgerufen am 19.03.2024.