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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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nur mit der Leidenschaft Anderer, sondern auch mit Naturkräften, und
den Schrecken des räumlich und zeitlich Erhabenen. So kämpft der
gute Wille nicht nur mit dem beschränkteren guten, sondern auch mit
dem bösen, dem unsteten, dem leidenschaftlichen und zugleich mit allem
dem, womit dieser kämpft.

2. Ueber diese sich breit wälzende Masse herrscht der Zufall, der
aus dem Zugleichseyn der Gattungen entsteht. Ich kann nicht wissen,
wann und wo eine Kraft Gelegenheit und Anstoß findet, mit dieser oder
jener Kraft, ein Subject, mit dieser oder jener Form des Willens u. s. w.
zu kämpfen. Der Kampf selbst hebt erst den Zufall auf: die Kraft, der
Wille hat gekämpft und nun hat sich dadurch ihr Wesen bewährt, es
ist ein Fortschritt gewonnen, ein Sinn in das Spiel des Zufalls
eingetreten, allein dies ist noch ganz unbestimmt und abstract, wir suchen
erst die höhere Ordnung, die den Kampf selbst durchdringt und be-
herrscht.

3. Das Schöne ist jetzt das Erhabene. Aber es besteht dennoch
außer ihm auch als besondere Gestalt, welche freilich, da nun der geistige
Gehalt mit überwiegender Bedeutung in einer anderen Erscheinung neben
sie tritt, zur untergeordneten Form wird (vergl. §. 73, 1), und so
spielt es nun ebenfalls in diesem unendlichen Complex eine Rolle. Z. B. im
Trauerspiel, von dem zwar keineswegs allein hier die Rede ist, treten
als betheiligte Gestalten, um die erhabenen Charaktere in Bewegung zu
setzen, harmlos anmuthige Gestalten auf, wie Rüdigers Tochter in den
Nibelungen, Max neben Wallenstein, die Söhne Eduards, Margarete
und Klärchen in ihrer ersten Phase (denn nachher erheben sie sich zum
innern Kampfe). Sie sind in diesem Zusammenhang gewöhnlich bestimmt,
als Opfer zu fallen, sie stehen wie "die Alpenblumen am Wassersturz".
Auch eine schöne landschaftliche Natur kann in dem erhabenen Charakter
vorbereitende Stimmungen hervorrufen.

§. 118.

Dieser Complex stellt, nachdem sich die letzte Form, welche als die höchste
und wahrste erschien, aufgehoben hat, eine Masse ohne Gesetz und Einheit
dar. Allein diese Form hat sich nicht schlechtweg aufgehoben, sondern in ein
Erhabenes, das im guten Subject mehr als Subject ist. Dieses Erhabene stellte
sich zugleich als ein Solches dar, welches in der Anreihung der Subjecte, die

nur mit der Leidenſchaft Anderer, ſondern auch mit Naturkräften, und
den Schrecken des räumlich und zeitlich Erhabenen. So kämpft der
gute Wille nicht nur mit dem beſchränkteren guten, ſondern auch mit
dem böſen, dem unſteten, dem leidenſchaftlichen und zugleich mit allem
dem, womit dieſer kämpft.

2. Ueber dieſe ſich breit wälzende Maſſe herrſcht der Zufall, der
aus dem Zugleichſeyn der Gattungen entſteht. Ich kann nicht wiſſen,
wann und wo eine Kraft Gelegenheit und Anſtoß findet, mit dieſer oder
jener Kraft, ein Subject, mit dieſer oder jener Form des Willens u. ſ. w.
zu kämpfen. Der Kampf ſelbſt hebt erſt den Zufall auf: die Kraft, der
Wille hat gekämpft und nun hat ſich dadurch ihr Weſen bewährt, es
iſt ein Fortſchritt gewonnen, ein Sinn in das Spiel des Zufalls
eingetreten, allein dies iſt noch ganz unbeſtimmt und abſtract, wir ſuchen
erſt die höhere Ordnung, die den Kampf ſelbſt durchdringt und be-
herrſcht.

3. Das Schöne iſt jetzt das Erhabene. Aber es beſteht dennoch
außer ihm auch als beſondere Geſtalt, welche freilich, da nun der geiſtige
Gehalt mit überwiegender Bedeutung in einer anderen Erſcheinung neben
ſie tritt, zur untergeordneten Form wird (vergl. §. 73, 1), und ſo
ſpielt es nun ebenfalls in dieſem unendlichen Complex eine Rolle. Z. B. im
Trauerſpiel, von dem zwar keineswegs allein hier die Rede iſt, treten
als betheiligte Geſtalten, um die erhabenen Charaktere in Bewegung zu
ſetzen, harmlos anmuthige Geſtalten auf, wie Rüdigers Tochter in den
Nibelungen, Max neben Wallenſtein, die Söhne Eduards, Margarete
und Klärchen in ihrer erſten Phaſe (denn nachher erheben ſie ſich zum
innern Kampfe). Sie ſind in dieſem Zuſammenhang gewöhnlich beſtimmt,
als Opfer zu fallen, ſie ſtehen wie „die Alpenblumen am Waſſerſturz“.
Auch eine ſchöne landſchaftliche Natur kann in dem erhabenen Charakter
vorbereitende Stimmungen hervorrufen.

§. 118.

Dieſer Complex ſtellt, nachdem ſich die letzte Form, welche als die höchſte
und wahrſte erſchien, aufgehoben hat, eine Maſſe ohne Geſetz und Einheit
dar. Allein dieſe Form hat ſich nicht ſchlechtweg aufgehoben, ſondern in ein
Erhabenes, das im guten Subject mehr als Subject iſt. Dieſes Erhabene ſtellte
ſich zugleich als ein Solches dar, welches in der Anreihung der Subjecte, die

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[278/0292] nur mit der Leidenſchaft Anderer, ſondern auch mit Naturkräften, und den Schrecken des räumlich und zeitlich Erhabenen. So kämpft der gute Wille nicht nur mit dem beſchränkteren guten, ſondern auch mit dem böſen, dem unſteten, dem leidenſchaftlichen und zugleich mit allem dem, womit dieſer kämpft. 2. Ueber dieſe ſich breit wälzende Maſſe herrſcht der Zufall, der aus dem Zugleichſeyn der Gattungen entſteht. Ich kann nicht wiſſen, wann und wo eine Kraft Gelegenheit und Anſtoß findet, mit dieſer oder jener Kraft, ein Subject, mit dieſer oder jener Form des Willens u. ſ. w. zu kämpfen. Der Kampf ſelbſt hebt erſt den Zufall auf: die Kraft, der Wille hat gekämpft und nun hat ſich dadurch ihr Weſen bewährt, es iſt ein Fortſchritt gewonnen, ein Sinn in das Spiel des Zufalls eingetreten, allein dies iſt noch ganz unbeſtimmt und abſtract, wir ſuchen erſt die höhere Ordnung, die den Kampf ſelbſt durchdringt und be- herrſcht. 3. Das Schöne iſt jetzt das Erhabene. Aber es beſteht dennoch außer ihm auch als beſondere Geſtalt, welche freilich, da nun der geiſtige Gehalt mit überwiegender Bedeutung in einer anderen Erſcheinung neben ſie tritt, zur untergeordneten Form wird (vergl. §. 73, 1), und ſo ſpielt es nun ebenfalls in dieſem unendlichen Complex eine Rolle. Z. B. im Trauerſpiel, von dem zwar keineswegs allein hier die Rede iſt, treten als betheiligte Geſtalten, um die erhabenen Charaktere in Bewegung zu ſetzen, harmlos anmuthige Geſtalten auf, wie Rüdigers Tochter in den Nibelungen, Max neben Wallenſtein, die Söhne Eduards, Margarete und Klärchen in ihrer erſten Phaſe (denn nachher erheben ſie ſich zum innern Kampfe). Sie ſind in dieſem Zuſammenhang gewöhnlich beſtimmt, als Opfer zu fallen, ſie ſtehen wie „die Alpenblumen am Waſſerſturz“. Auch eine ſchöne landſchaftliche Natur kann in dem erhabenen Charakter vorbereitende Stimmungen hervorrufen. §. 118. Dieſer Complex ſtellt, nachdem ſich die letzte Form, welche als die höchſte und wahrſte erſchien, aufgehoben hat, eine Maſſe ohne Geſetz und Einheit dar. Allein dieſe Form hat ſich nicht ſchlechtweg aufgehoben, ſondern in ein Erhabenes, das im guten Subject mehr als Subject iſt. Dieſes Erhabene ſtellte ſich zugleich als ein Solches dar, welches in der Anreihung der Subjecte, die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/292>, abgerufen am 19.03.2024.