Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

die schuldlos untergeht. Schwieriger ist es, Banquos Untergang unter
unsern Satz zu begreifen, denn dieser scheint bei Shakespeare ganz un-
schuldig, doch kann man ohne Zwang geltend machen, daß er, wenn
Macbeth, wie er fürchtet, "ein schändlich Spiel spielte", nicht unthätig
am Hofe hätte zurückbleiben sollen. Er hat schon Theil an der allgemeinen
Schuld Schottlands, welche später auch die Flüchtlinge sich vorwerfen,
dem Tyrannen zu lang als widerstandsloser Stoff gehalten zu haben.
Klar aber ist die allgemeine Schuld Englands in Richard III. Die
Kassandra, gemordet mit Agamemnon, hat nach antiker Weise ohne be-
sondere Schuld doch Theil an der allgemeinen der Trojaner; dagegen ist
Agamemnons Schuld deutlich. Max und Thekla im Wallenstein gehen
freilich ganz unschuldig zu Grunde, aber sie sind auch abstract ideale
Figuren. Wären sie mit mehr Lebenswahrheit hingestellt, so wäre mit
dem nöthigen Schatten auch der Anknüpfungspunkt gegeben, um sie
wenigstens unter den Standpunkt der Urschuld der Individualität zu stellen.
Dem Mißverhältniß nun zwischen der Schuld und dem Leiden wird, wo der
Charakter ein ausgebildeter schon ist oder im Fortgange wird, wesentlich da-
durch sein Stachel genommen, daß das Leiden die innere Erhabenheit zur
Entfaltung bringt. Wir hätten ohne dieses nicht gesehen, welche Unend-
lichkeit der Liebe in Desdemona, Cordelia, welche Anmuth im Wahnsinn
selbst in Ophelia, welche Kraft der Tapferkeit in Macduff wohnt: dies
versöhnt mit dem Leiden. Also tritt hier wieder die negative Erhabenheit
des Subjects (§. 113) ein; nur ist nicht zu übersehen, daß diese Form
jetzt in einem ganz andern Zusammenhange steht.

§. 133.

1

Es erfolgt die Strafe durch den verletzten sittlichen Complex und die
ästhetische Einheit ist eine um so höhere, je mehr auch sie als die einfache
2Kehrseite der Schuld erscheint. Ist jedoch diese von unbestimmter Art, so
kann die Strafe aus einem unglücklichen Zufall hervorgehen. Ist sie von bestimmter
Art, so sind Subjecte mit Absicht die Organe derselben, und diese sind ent-
weder als die verletzten, obwohl nicht völlig unschuldig (§. 132), doch gegen
das schuldige Hauptsubject im Rechte und die Strafe erscheint unmittelbar als
gerecht, oder sie sind nicht die verletzten und verfallen, indem sie über das
nicht gegen sie schuldige Hauptsubject das Uebel verhängen, selbst in Schuld
und Strafe, aber dieses setzt sein unmittelbar nicht verdientes und insofern

die ſchuldlos untergeht. Schwieriger iſt es, Banquos Untergang unter
unſern Satz zu begreifen, denn dieſer ſcheint bei Shakespeare ganz un-
ſchuldig, doch kann man ohne Zwang geltend machen, daß er, wenn
Macbeth, wie er fürchtet, „ein ſchändlich Spiel ſpielte“, nicht unthätig
am Hofe hätte zurückbleiben ſollen. Er hat ſchon Theil an der allgemeinen
Schuld Schottlands, welche ſpäter auch die Flüchtlinge ſich vorwerfen,
dem Tyrannen zu lang als widerſtandsloſer Stoff gehalten zu haben.
Klar aber iſt die allgemeine Schuld Englands in Richard III. Die
Kaſſandra, gemordet mit Agamemnon, hat nach antiker Weiſe ohne be-
ſondere Schuld doch Theil an der allgemeinen der Trojaner; dagegen iſt
Agamemnons Schuld deutlich. Max und Thekla im Wallenſtein gehen
freilich ganz unſchuldig zu Grunde, aber ſie ſind auch abſtract ideale
Figuren. Wären ſie mit mehr Lebenswahrheit hingeſtellt, ſo wäre mit
dem nöthigen Schatten auch der Anknüpfungspunkt gegeben, um ſie
wenigſtens unter den Standpunkt der Urſchuld der Individualität zu ſtellen.
Dem Mißverhältniß nun zwiſchen der Schuld und dem Leiden wird, wo der
Charakter ein ausgebildeter ſchon iſt oder im Fortgange wird, weſentlich da-
durch ſein Stachel genommen, daß das Leiden die innere Erhabenheit zur
Entfaltung bringt. Wir hätten ohne dieſes nicht geſehen, welche Unend-
lichkeit der Liebe in Desdemona, Cordelia, welche Anmuth im Wahnſinn
ſelbſt in Ophelia, welche Kraft der Tapferkeit in Macduff wohnt: dies
verſöhnt mit dem Leiden. Alſo tritt hier wieder die negative Erhabenheit
des Subjects (§. 113) ein; nur iſt nicht zu überſehen, daß dieſe Form
jetzt in einem ganz andern Zuſammenhange ſteht.

§. 133.

1

Es erfolgt die Strafe durch den verletzten ſittlichen Complex und die
äſthetiſche Einheit iſt eine um ſo höhere, je mehr auch ſie als die einfache
2Kehrſeite der Schuld erſcheint. Iſt jedoch dieſe von unbeſtimmter Art, ſo
kann die Strafe aus einem unglücklichen Zufall hervorgehen. Iſt ſie von beſtimmter
Art, ſo ſind Subjecte mit Abſicht die Organe derſelben, und dieſe ſind ent-
weder als die verletzten, obwohl nicht völlig unſchuldig (§. 132), doch gegen
das ſchuldige Hauptſubject im Rechte und die Strafe erſcheint unmittelbar als
gerecht, oder ſie ſind nicht die verletzten und verfallen, indem ſie über das
nicht gegen ſie ſchuldige Hauptſubject das Uebel verhängen, ſelbſt in Schuld
und Strafe, aber dieſes ſetzt ſein unmittelbar nicht verdientes und inſofern

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p>
                    <pb facs="#f0322" n="308"/> <hi rendition="#et">die &#x017F;chuldlos untergeht. Schwieriger i&#x017F;t es, Banquos Untergang unter<lb/>
un&#x017F;ern Satz zu begreifen, denn die&#x017F;er &#x017F;cheint bei <hi rendition="#g">Shakespeare</hi> ganz un-<lb/>
&#x017F;chuldig, doch kann man ohne Zwang geltend machen, daß er, wenn<lb/>
Macbeth, wie er fürchtet, &#x201E;ein &#x017F;chändlich Spiel &#x017F;pielte&#x201C;, nicht unthätig<lb/>
am Hofe hätte zurückbleiben &#x017F;ollen. Er hat &#x017F;chon Theil an der allgemeinen<lb/>
Schuld Schottlands, welche &#x017F;päter auch die Flüchtlinge &#x017F;ich vorwerfen,<lb/>
dem Tyrannen zu lang als wider&#x017F;tandslo&#x017F;er Stoff gehalten zu haben.<lb/>
Klar aber i&#x017F;t die allgemeine Schuld Englands in Richard <hi rendition="#aq">III.</hi> Die<lb/>
Ka&#x017F;&#x017F;andra, gemordet mit Agamemnon, hat nach antiker Wei&#x017F;e ohne be-<lb/>
&#x017F;ondere Schuld doch Theil an der allgemeinen der Trojaner; dagegen i&#x017F;t<lb/>
Agamemnons Schuld deutlich. Max und Thekla im Wallen&#x017F;tein gehen<lb/>
freilich ganz un&#x017F;chuldig zu Grunde, aber &#x017F;ie &#x017F;ind auch ab&#x017F;tract ideale<lb/>
Figuren. Wären &#x017F;ie mit mehr Lebenswahrheit hinge&#x017F;tellt, &#x017F;o wäre mit<lb/>
dem nöthigen Schatten auch der Anknüpfungspunkt gegeben, um &#x017F;ie<lb/>
wenig&#x017F;tens unter den Standpunkt der Ur&#x017F;chuld der Individualität zu &#x017F;tellen.<lb/>
Dem Mißverhältniß nun zwi&#x017F;chen der Schuld und dem Leiden wird, wo der<lb/>
Charakter ein ausgebildeter &#x017F;chon i&#x017F;t oder im Fortgange wird, we&#x017F;entlich da-<lb/>
durch &#x017F;ein Stachel genommen, daß das Leiden die innere Erhabenheit zur<lb/>
Entfaltung bringt. Wir hätten ohne die&#x017F;es nicht ge&#x017F;ehen, welche Unend-<lb/>
lichkeit der Liebe in Desdemona, Cordelia, welche Anmuth im Wahn&#x017F;inn<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in Ophelia, welche Kraft der Tapferkeit in Macduff wohnt: dies<lb/>
ver&#x017F;öhnt mit dem Leiden. Al&#x017F;o tritt hier wieder die negative Erhabenheit<lb/>
des Subjects (§. 113) ein; nur i&#x017F;t nicht zu über&#x017F;ehen, daß die&#x017F;e Form<lb/>
jetzt in einem ganz andern Zu&#x017F;ammenhange &#x017F;teht.</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 133.</head><lb/>
                  <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
                  <p> <hi rendition="#fr">Es erfolgt die Strafe durch den verletzten &#x017F;ittlichen Complex und die<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;che Einheit i&#x017F;t eine um &#x017F;o höhere, je mehr auch &#x017F;ie als die einfache<lb/><note place="left">2</note>Kehr&#x017F;eite der Schuld er&#x017F;cheint. I&#x017F;t jedoch die&#x017F;e von unbe&#x017F;timmter Art, &#x017F;o<lb/>
kann die Strafe aus einem unglücklichen Zufall hervorgehen. I&#x017F;t &#x017F;ie von be&#x017F;timmter<lb/>
Art, &#x017F;o &#x017F;ind Subjecte mit Ab&#x017F;icht die Organe der&#x017F;elben, und die&#x017F;e &#x017F;ind ent-<lb/>
weder als die verletzten, obwohl nicht völlig un&#x017F;chuldig (§. 132), doch gegen<lb/>
das &#x017F;chuldige Haupt&#x017F;ubject im Rechte und die Strafe er&#x017F;cheint unmittelbar als<lb/>
gerecht, oder &#x017F;ie &#x017F;ind nicht die verletzten und verfallen, indem &#x017F;ie über das<lb/>
nicht gegen &#x017F;ie &#x017F;chuldige Haupt&#x017F;ubject das Uebel verhängen, &#x017F;elb&#x017F;t in Schuld<lb/>
und Strafe, aber die&#x017F;es &#x017F;etzt &#x017F;ein unmittelbar nicht verdientes und in&#x017F;ofern<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[308/0322] die ſchuldlos untergeht. Schwieriger iſt es, Banquos Untergang unter unſern Satz zu begreifen, denn dieſer ſcheint bei Shakespeare ganz un- ſchuldig, doch kann man ohne Zwang geltend machen, daß er, wenn Macbeth, wie er fürchtet, „ein ſchändlich Spiel ſpielte“, nicht unthätig am Hofe hätte zurückbleiben ſollen. Er hat ſchon Theil an der allgemeinen Schuld Schottlands, welche ſpäter auch die Flüchtlinge ſich vorwerfen, dem Tyrannen zu lang als widerſtandsloſer Stoff gehalten zu haben. Klar aber iſt die allgemeine Schuld Englands in Richard III. Die Kaſſandra, gemordet mit Agamemnon, hat nach antiker Weiſe ohne be- ſondere Schuld doch Theil an der allgemeinen der Trojaner; dagegen iſt Agamemnons Schuld deutlich. Max und Thekla im Wallenſtein gehen freilich ganz unſchuldig zu Grunde, aber ſie ſind auch abſtract ideale Figuren. Wären ſie mit mehr Lebenswahrheit hingeſtellt, ſo wäre mit dem nöthigen Schatten auch der Anknüpfungspunkt gegeben, um ſie wenigſtens unter den Standpunkt der Urſchuld der Individualität zu ſtellen. Dem Mißverhältniß nun zwiſchen der Schuld und dem Leiden wird, wo der Charakter ein ausgebildeter ſchon iſt oder im Fortgange wird, weſentlich da- durch ſein Stachel genommen, daß das Leiden die innere Erhabenheit zur Entfaltung bringt. Wir hätten ohne dieſes nicht geſehen, welche Unend- lichkeit der Liebe in Desdemona, Cordelia, welche Anmuth im Wahnſinn ſelbſt in Ophelia, welche Kraft der Tapferkeit in Macduff wohnt: dies verſöhnt mit dem Leiden. Alſo tritt hier wieder die negative Erhabenheit des Subjects (§. 113) ein; nur iſt nicht zu überſehen, daß dieſe Form jetzt in einem ganz andern Zuſammenhange ſteht. §. 133. Es erfolgt die Strafe durch den verletzten ſittlichen Complex und die äſthetiſche Einheit iſt eine um ſo höhere, je mehr auch ſie als die einfache Kehrſeite der Schuld erſcheint. Iſt jedoch dieſe von unbeſtimmter Art, ſo kann die Strafe aus einem unglücklichen Zufall hervorgehen. Iſt ſie von beſtimmter Art, ſo ſind Subjecte mit Abſicht die Organe derſelben, und dieſe ſind ent- weder als die verletzten, obwohl nicht völlig unſchuldig (§. 132), doch gegen das ſchuldige Hauptſubject im Rechte und die Strafe erſcheint unmittelbar als gerecht, oder ſie ſind nicht die verletzten und verfallen, indem ſie über das nicht gegen ſie ſchuldige Hauptſubject das Uebel verhängen, ſelbſt in Schuld und Strafe, aber dieſes ſetzt ſein unmittelbar nicht verdientes und inſofern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/322
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/322>, abgerufen am 19.03.2024.