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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Wie schwer zu rathen sey, das fühlst du selbst
Nach dem, was du gesagt. Es ist nicht hier
Ein Mißverständniß zwischen Gleichgesinnten;
Das stellen Worte, ja im Nothfall stellen
Es Waffen leicht und glücklich wieder her.
Zwei Männer sind's, ich hab' es lang gefühlt,
Die darum Feinde sind, weil die Natur
Nicht Einen Mann aus ihnen beiden formte.
(Leonore in Göthes Tasso.)
§. 138.

Durch die That des einen Subjects wird das andere, das von dem Pathos
durchdrungen ist, welches durch die Idee ebenso wesentlich gefordert ist wie das
Pathos des ersten, in seinem Rechte verletzt und führt aus seinem Pathos den
Gegenschlag. Aber es verhält sich mit ihm, wie mit dem ersten Subjecte: es
hat wie dieses im Rechte Unrecht und verfällt in Schuld. Beide erfahren nun
durch ihre That das Gegentheil ihres Zwecks: es geschieht, was sie wollten,
aber es geschieht auch das, was dieses Gewollte verkehrt und aufhebt. Hiedurch
leiden beide unendliches Uebel. Die Straffheit der Spannung fordert, daß dieses
nicht nur in der Unendlichkeit des inneren Schmerzes über die Verkehrung des
höchsten Lebenszwecks bestehe, sondern daß Blut fließe. Allein während das
Subject, das im einleuchtenderen Rechte steht (§. 136), sich durch die Raschheit
des volleren Pathos in den Tod stürzt, so ist für das Subject, welches für
das Bestehende kämpft, ein trübes Ueberleben theurer Verlorener nach schein-
barem Siege angemessener. Was die in diesen Kampf hineingezogenen, aber
nicht in erster Linie betheiligten Subjecte betrifft, so gilt für das Verhältniß
ihres Untergangs zu ihrer Schuld dasselbe, was in der zweiten Form (§. 132).

Der Inhalt des §. mag an der Antigone des Sophokles ver-
gegenwärtigt werden. Die von Solger, Hegel, Süvern aufgestellte
Auffassung ist bekanntlich, von Gruppe besonders, angefochten worden.
Die Gegengründe s. Ueber d. Erh. u. Kom. S. 135 ff. Kreon setzt
die Bestrafung der Antigone durch, wie sie auf ihrem Willen, Polyneikes
zu begraben, bestand. Allein die Familienliebe, deren uralt ungeschrie-
benes Gesetz er durch neue Menschensatzung umstoßen wollte, rächt sich
an ihm, der zwar das Interesse des Staates für die Aufstellung seines
Verbots und die Heiligkeit des ausdrücklichen Gesetzes für die Aufrecht-
erhaltung desselben in Anspruch nimmt, aber freilich als unschöner Cha-
rakter erscheint, unreine Motive einmischt, die sophrosune vergißt. Die Ver-
kündigung des Tiresias ändert seinen Sinn, er selbst von schlimmer Ahnung

Wie ſchwer zu rathen ſey, das fühlſt du ſelbſt
Nach dem, was du geſagt. Es iſt nicht hier
Ein Mißverſtändniß zwiſchen Gleichgeſinnten;
Das ſtellen Worte, ja im Nothfall ſtellen
Es Waffen leicht und glücklich wieder her.
Zwei Männer ſind’s, ich hab’ es lang gefühlt,
Die darum Feinde ſind, weil die Natur
Nicht Einen Mann aus ihnen beiden formte.
(Leonore in Göthes Taſſo.)
§. 138.

Durch die That des einen Subjects wird das andere, das von dem Pathos
durchdrungen iſt, welches durch die Idee ebenſo weſentlich gefordert iſt wie das
Pathos des erſten, in ſeinem Rechte verletzt und führt aus ſeinem Pathos den
Gegenſchlag. Aber es verhält ſich mit ihm, wie mit dem erſten Subjecte: es
hat wie dieſes im Rechte Unrecht und verfällt in Schuld. Beide erfahren nun
durch ihre That das Gegentheil ihres Zwecks: es geſchieht, was ſie wollten,
aber es geſchieht auch das, was dieſes Gewollte verkehrt und aufhebt. Hiedurch
leiden beide unendliches Uebel. Die Straffheit der Spannung fordert, daß dieſes
nicht nur in der Unendlichkeit des inneren Schmerzes über die Verkehrung des
höchſten Lebenszwecks beſtehe, ſondern daß Blut fließe. Allein während das
Subject, das im einleuchtenderen Rechte ſteht (§. 136), ſich durch die Raſchheit
des volleren Pathos in den Tod ſtürzt, ſo iſt für das Subject, welches für
das Beſtehende kämpft, ein trübes Ueberleben theurer Verlorener nach ſchein-
barem Siege angemeſſener. Was die in dieſen Kampf hineingezogenen, aber
nicht in erſter Linie betheiligten Subjecte betrifft, ſo gilt für das Verhältniß
ihres Untergangs zu ihrer Schuld dasſelbe, was in der zweiten Form (§. 132).

Der Inhalt des §. mag an der Antigone des Sophokles ver-
gegenwärtigt werden. Die von Solger, Hegel, Süvern aufgeſtellte
Auffaſſung iſt bekanntlich, von Gruppe beſonders, angefochten worden.
Die Gegengründe ſ. Ueber d. Erh. u. Kom. S. 135 ff. Kreon ſetzt
die Beſtrafung der Antigone durch, wie ſie auf ihrem Willen, Polyneikes
zu begraben, beſtand. Allein die Familienliebe, deren uralt ungeſchrie-
benes Geſetz er durch neue Menſchenſatzung umſtoßen wollte, rächt ſich
an ihm, der zwar das Intereſſe des Staates für die Aufſtellung ſeines
Verbots und die Heiligkeit des ausdrücklichen Geſetzes für die Aufrecht-
erhaltung deſſelben in Anſpruch nimmt, aber freilich als unſchöner Cha-
rakter erſcheint, unreine Motive einmiſcht, die σωφροσύνη vergißt. Die Ver-
kündigung des Tireſias ändert ſeinen Sinn, er ſelbſt von ſchlimmer Ahnung

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[317/0331] Wie ſchwer zu rathen ſey, das fühlſt du ſelbſt Nach dem, was du geſagt. Es iſt nicht hier Ein Mißverſtändniß zwiſchen Gleichgeſinnten; Das ſtellen Worte, ja im Nothfall ſtellen Es Waffen leicht und glücklich wieder her. Zwei Männer ſind’s, ich hab’ es lang gefühlt, Die darum Feinde ſind, weil die Natur Nicht Einen Mann aus ihnen beiden formte. (Leonore in Göthes Taſſo.) §. 138. Durch die That des einen Subjects wird das andere, das von dem Pathos durchdrungen iſt, welches durch die Idee ebenſo weſentlich gefordert iſt wie das Pathos des erſten, in ſeinem Rechte verletzt und führt aus ſeinem Pathos den Gegenſchlag. Aber es verhält ſich mit ihm, wie mit dem erſten Subjecte: es hat wie dieſes im Rechte Unrecht und verfällt in Schuld. Beide erfahren nun durch ihre That das Gegentheil ihres Zwecks: es geſchieht, was ſie wollten, aber es geſchieht auch das, was dieſes Gewollte verkehrt und aufhebt. Hiedurch leiden beide unendliches Uebel. Die Straffheit der Spannung fordert, daß dieſes nicht nur in der Unendlichkeit des inneren Schmerzes über die Verkehrung des höchſten Lebenszwecks beſtehe, ſondern daß Blut fließe. Allein während das Subject, das im einleuchtenderen Rechte ſteht (§. 136), ſich durch die Raſchheit des volleren Pathos in den Tod ſtürzt, ſo iſt für das Subject, welches für das Beſtehende kämpft, ein trübes Ueberleben theurer Verlorener nach ſchein- barem Siege angemeſſener. Was die in dieſen Kampf hineingezogenen, aber nicht in erſter Linie betheiligten Subjecte betrifft, ſo gilt für das Verhältniß ihres Untergangs zu ihrer Schuld dasſelbe, was in der zweiten Form (§. 132). Der Inhalt des §. mag an der Antigone des Sophokles ver- gegenwärtigt werden. Die von Solger, Hegel, Süvern aufgeſtellte Auffaſſung iſt bekanntlich, von Gruppe beſonders, angefochten worden. Die Gegengründe ſ. Ueber d. Erh. u. Kom. S. 135 ff. Kreon ſetzt die Beſtrafung der Antigone durch, wie ſie auf ihrem Willen, Polyneikes zu begraben, beſtand. Allein die Familienliebe, deren uralt ungeſchrie- benes Geſetz er durch neue Menſchenſatzung umſtoßen wollte, rächt ſich an ihm, der zwar das Intereſſe des Staates für die Aufſtellung ſeines Verbots und die Heiligkeit des ausdrücklichen Geſetzes für die Aufrecht- erhaltung deſſelben in Anſpruch nimmt, aber freilich als unſchöner Cha- rakter erſcheint, unreine Motive einmiſcht, die σωφροσύνη vergißt. Die Ver- kündigung des Tireſias ändert ſeinen Sinn, er ſelbſt von ſchlimmer Ahnung

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/331>, abgerufen am 19.03.2024.