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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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daß sie ihr Pathos mit der Einseitigkeit der einzelnen Subjectivität behafteten,
so löst sich die sittliche Macht, von der sie durchdrungen waren, aus dieser
Durchdringung und stellt sich unendlich über sie. Indem sie leiden, wird aller-
dings auch die von ihnen vertretene sittliche Macht verletzt und dies erhöht
zunächst das Gefühl der Unlust. Aber diese Macht hat noch einen anderen
Boden, sie ist im reinen Einklang der absoluten sittlichen Idee aufgehoben und
das Gesetz dieses Einklangs tritt nun als wahrer Kern der vorher dunkeln
tragischen Kraft hervor und übt an den Schuldigen Gerechtigkeit. Der Zu-
schauer nun, mitgesetzt in den angeschauten Subjecten, fühlt die allgemeine
Schuld ebenso wie das Leiden auch als die seinige und richtet sich in diesem
Anblicke zu dem Gefühle der absoluten Ehrfurcht vor der absoluten sittlichen
Macht auf.

Bohtz (a. a. O. S. 135) nennt diese wahrhaft gereinigte Furcht
Ehrfurcht oder mit der h. Schrift Furcht des Herrn. Jener Name
mußte allerdings schon für das Gefühl gebraucht werden, das subjective
Erhabenheit erregt (§. 142). Dagegen führen Ausdrücke wie: Furcht
des Herrn oder Anbetung auf das salbungsreiche Gebiet ab.

§. 146.

Der Zuschauer schlägt sich nun selbst auf die Seite des ausübenden absoluten
Subjects und in dieses höchste Gefühl, ein Glied des ewigen Ganzen zu seyn, löst
sich auch die Unlust auf, die als erste Stimmung in der Ehrfurcht liegt. Kommt
dazu im angeschauten Subjecte die Anerkennung der Schuld und dadurch die
innere Ueberwindung des Leidens, so wird die Lust durch den Anblick der
wiederhergestellten, in die absolute aufgenommenen subjectiven Erhabenheit
verdoppelt. Die verletzten Momente der absoluten sittlichen Einheit aber, d. h.
die einzelnen sittlichen Mächte werden nicht nur innerlich durch jene Aner-
kennung wieder in Einklang gesetzt, sondern ebendadurch wird in Aussicht ge-
stellt, daß sie, den Untergang ihrer einseitigen Vertretung überdauernd, einer
Reinigung entgegen gehen (§. 139, 2). So erscheint die absolute Macht als
eine wesentlich erhaltende. Die volle Lust, welche durch dieses Schauspiel aus
der vollen Unlust entspringt, gewährt in ihrer Reinheit nur die dritte Form
des negativ Tragischen, die übrigen führen dazu in unvollständigen Stufen.


daß ſie ihr Pathos mit der Einſeitigkeit der einzelnen Subjectivität behafteten,
ſo löst ſich die ſittliche Macht, von der ſie durchdrungen waren, aus dieſer
Durchdringung und ſtellt ſich unendlich über ſie. Indem ſie leiden, wird aller-
dings auch die von ihnen vertretene ſittliche Macht verletzt und dies erhöht
zunächſt das Gefühl der Unluſt. Aber dieſe Macht hat noch einen anderen
Boden, ſie iſt im reinen Einklang der abſoluten ſittlichen Idee aufgehoben und
das Geſetz dieſes Einklangs tritt nun als wahrer Kern der vorher dunkeln
tragiſchen Kraft hervor und übt an den Schuldigen Gerechtigkeit. Der Zu-
ſchauer nun, mitgeſetzt in den angeſchauten Subjecten, fühlt die allgemeine
Schuld ebenſo wie das Leiden auch als die ſeinige und richtet ſich in dieſem
Anblicke zu dem Gefühle der abſoluten Ehrfurcht vor der abſoluten ſittlichen
Macht auf.

Bohtz (a. a. O. S. 135) nennt dieſe wahrhaft gereinigte Furcht
Ehrfurcht oder mit der h. Schrift Furcht des Herrn. Jener Name
mußte allerdings ſchon für das Gefühl gebraucht werden, das ſubjective
Erhabenheit erregt (§. 142). Dagegen führen Ausdrücke wie: Furcht
des Herrn oder Anbetung auf das ſalbungsreiche Gebiet ab.

§. 146.

Der Zuſchauer ſchlägt ſich nun ſelbſt auf die Seite des ausübenden abſoluten
Subjects und in dieſes höchſte Gefühl, ein Glied des ewigen Ganzen zu ſeyn, löst
ſich auch die Unluſt auf, die als erſte Stimmung in der Ehrfurcht liegt. Kommt
dazu im angeſchauten Subjecte die Anerkennung der Schuld und dadurch die
innere Ueberwindung des Leidens, ſo wird die Luſt durch den Anblick der
wiederhergeſtellten, in die abſolute aufgenommenen ſubjectiven Erhabenheit
verdoppelt. Die verletzten Momente der abſoluten ſittlichen Einheit aber, d. h.
die einzelnen ſittlichen Mächte werden nicht nur innerlich durch jene Aner-
kennung wieder in Einklang geſetzt, ſondern ebendadurch wird in Ausſicht ge-
ſtellt, daß ſie, den Untergang ihrer einſeitigen Vertretung überdauernd, einer
Reinigung entgegen gehen (§. 139, 2). So erſcheint die abſolute Macht als
eine weſentlich erhaltende. Die volle Luſt, welche durch dieſes Schauſpiel aus
der vollen Unluſt entſpringt, gewährt in ihrer Reinheit nur die dritte Form
des negativ Tragiſchen, die übrigen führen dazu in unvollſtändigen Stufen.


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[332/0346] daß ſie ihr Pathos mit der Einſeitigkeit der einzelnen Subjectivität behafteten, ſo löst ſich die ſittliche Macht, von der ſie durchdrungen waren, aus dieſer Durchdringung und ſtellt ſich unendlich über ſie. Indem ſie leiden, wird aller- dings auch die von ihnen vertretene ſittliche Macht verletzt und dies erhöht zunächſt das Gefühl der Unluſt. Aber dieſe Macht hat noch einen anderen Boden, ſie iſt im reinen Einklang der abſoluten ſittlichen Idee aufgehoben und das Geſetz dieſes Einklangs tritt nun als wahrer Kern der vorher dunkeln tragiſchen Kraft hervor und übt an den Schuldigen Gerechtigkeit. Der Zu- ſchauer nun, mitgeſetzt in den angeſchauten Subjecten, fühlt die allgemeine Schuld ebenſo wie das Leiden auch als die ſeinige und richtet ſich in dieſem Anblicke zu dem Gefühle der abſoluten Ehrfurcht vor der abſoluten ſittlichen Macht auf. Bohtz (a. a. O. S. 135) nennt dieſe wahrhaft gereinigte Furcht Ehrfurcht oder mit der h. Schrift Furcht des Herrn. Jener Name mußte allerdings ſchon für das Gefühl gebraucht werden, das ſubjective Erhabenheit erregt (§. 142). Dagegen führen Ausdrücke wie: Furcht des Herrn oder Anbetung auf das ſalbungsreiche Gebiet ab. §. 146. Der Zuſchauer ſchlägt ſich nun ſelbſt auf die Seite des ausübenden abſoluten Subjects und in dieſes höchſte Gefühl, ein Glied des ewigen Ganzen zu ſeyn, löst ſich auch die Unluſt auf, die als erſte Stimmung in der Ehrfurcht liegt. Kommt dazu im angeſchauten Subjecte die Anerkennung der Schuld und dadurch die innere Ueberwindung des Leidens, ſo wird die Luſt durch den Anblick der wiederhergeſtellten, in die abſolute aufgenommenen ſubjectiven Erhabenheit verdoppelt. Die verletzten Momente der abſoluten ſittlichen Einheit aber, d. h. die einzelnen ſittlichen Mächte werden nicht nur innerlich durch jene Aner- kennung wieder in Einklang geſetzt, ſondern ebendadurch wird in Ausſicht ge- ſtellt, daß ſie, den Untergang ihrer einſeitigen Vertretung überdauernd, einer Reinigung entgegen gehen (§. 139, 2). So erſcheint die abſolute Macht als eine weſentlich erhaltende. Die volle Luſt, welche durch dieſes Schauſpiel aus der vollen Unluſt entſpringt, gewährt in ihrer Reinheit nur die dritte Form des negativ Tragiſchen, die übrigen führen dazu in unvollſtändigen Stufen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/346>, abgerufen am 19.03.2024.