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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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also z. B. der Rachen des Krokodils so vorherrschend hervortritt, daß
alles Ebenmaß verschwindet, wenn Schultern, Brust und Arme an einem
Menschen so stark sind, daß der Kopf dagegen unverhältnißmäßig klein
erscheint, so wird im Erhabenen nicht dies in Betrachtung gezogen, daß
dort in der Thiergestalt der Begriff des thierischen Organismus, der aller-
dings schon harmonischere Ausbildung der Organe in sich schließt, hier
der Begriff des reinen menschlichen Organismus beleidigt ist, sondern
das Mißverhältniß wirkt im Dienste der Idee auf der Stufe, wo diese
eben im dortigen Zusammenhange steht, nämlich der furchterregenden
Kraft. Die Sache verhält sich also im Grunde so: das Häßliche wurde
dort nur stoffartig aufgenommen, um im Sinne des Furchtbaren zur
reinen Form erhoben zu werden, nun aber sucht und setzt der innere
Zusammenhang des Schönen selbst das Häßliche als den bestimmenden
Begriff, und jetzt tritt die Verkehrung der eigenen, dem Gebilde in-
wohnenden Idee als das Wesentliche hervor.

§. 149.

Ebendarum war der Widerspruch des Häßlichen nicht in seiner Strenge1
vorhanden, wo dasselbe im Erhabenen hervortrat, denn die Verkehrung des
Einklangs, wodurch das Unterste zu oberst gestellt wird, behauptete sich dort
nicht als schön, sondern war nur Mittel des Furchtbaren. Alle Häßlichkeit,
welche furchtbar ist, fällt aus der reinen Häßlichkeit, die an der gegenwärtigen
Stelle auftritt, weg, da der in §. 147 gegebene Uebergang das Häßliche als2
solches fordert, d. h. eine Erscheinung, welche sich nicht nur gegen ihre eigene
Idee oder gegen die aus ihrer eigenen Gattung fließenden Bildungsgesetze auf-
lehnt, ohne welche sie doch nichts ist und deren verzerrtes Bild sich selbst in
der Verkehrung noch darstellt, sondern in dieser Verkehrung selbst das Schöne
zu seyn sich anmaßt.

1. Weiße hat das Verdienst, dem Häßlichen den Ort, der ihm
gehört, nämlich auf dem Uebergange vom Erhabenen zum Komischen an-
gewiesen zu haben; eine Stellung, die durch einen Wink Lessings an-
gedeutet war, von welchem die Rede seyn wird. Allein sowohl er, als
Ruge, der ihm folgt, führen hier eine dämonische Gespensterwelt auf,
welche wesentlich grauenhaft ist und daher unter das Furchtbare, also das
Erhabene, fällt. (Weiße Aesth. I, §. 26 -- 28. Ruge Neue Vorsch.

Vischer's Aesthetik. 1. Bd. 22

alſo z. B. der Rachen des Krokodils ſo vorherrſchend hervortritt, daß
alles Ebenmaß verſchwindet, wenn Schultern, Bruſt und Arme an einem
Menſchen ſo ſtark ſind, daß der Kopf dagegen unverhältnißmäßig klein
erſcheint, ſo wird im Erhabenen nicht dies in Betrachtung gezogen, daß
dort in der Thiergeſtalt der Begriff des thieriſchen Organismus, der aller-
dings ſchon harmoniſchere Ausbildung der Organe in ſich ſchließt, hier
der Begriff des reinen menſchlichen Organismus beleidigt iſt, ſondern
das Mißverhältniß wirkt im Dienſte der Idee auf der Stufe, wo dieſe
eben im dortigen Zuſammenhange ſteht, nämlich der furchterregenden
Kraft. Die Sache verhält ſich alſo im Grunde ſo: das Häßliche wurde
dort nur ſtoffartig aufgenommen, um im Sinne des Furchtbaren zur
reinen Form erhoben zu werden, nun aber ſucht und ſetzt der innere
Zuſammenhang des Schönen ſelbſt das Häßliche als den beſtimmenden
Begriff, und jetzt tritt die Verkehrung der eigenen, dem Gebilde in-
wohnenden Idee als das Weſentliche hervor.

§. 149.

Ebendarum war der Widerſpruch des Häßlichen nicht in ſeiner Strenge1
vorhanden, wo dasſelbe im Erhabenen hervortrat, denn die Verkehrung des
Einklangs, wodurch das Unterſte zu oberſt geſtellt wird, behauptete ſich dort
nicht als ſchön, ſondern war nur Mittel des Furchtbaren. Alle Häßlichkeit,
welche furchtbar iſt, fällt aus der reinen Häßlichkeit, die an der gegenwärtigen
Stelle auftritt, weg, da der in §. 147 gegebene Uebergang das Häßliche als2
ſolches fordert, d. h. eine Erſcheinung, welche ſich nicht nur gegen ihre eigene
Idee oder gegen die aus ihrer eigenen Gattung fließenden Bildungsgeſetze auf-
lehnt, ohne welche ſie doch nichts iſt und deren verzerrtes Bild ſich ſelbſt in
der Verkehrung noch darſtellt, ſondern in dieſer Verkehrung ſelbſt das Schöne
zu ſeyn ſich anmaßt.

1. Weiße hat das Verdienſt, dem Häßlichen den Ort, der ihm
gehört, nämlich auf dem Uebergange vom Erhabenen zum Komiſchen an-
gewieſen zu haben; eine Stellung, die durch einen Wink Leſſings an-
gedeutet war, von welchem die Rede ſeyn wird. Allein ſowohl er, als
Ruge, der ihm folgt, führen hier eine dämoniſche Geſpenſterwelt auf,
welche weſentlich grauenhaft iſt und daher unter das Furchtbare, alſo das
Erhabene, fällt. (Weiße Aeſth. I, §. 26 — 28. Ruge Neue Vorſch.

Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 22
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[337/0351] alſo z. B. der Rachen des Krokodils ſo vorherrſchend hervortritt, daß alles Ebenmaß verſchwindet, wenn Schultern, Bruſt und Arme an einem Menſchen ſo ſtark ſind, daß der Kopf dagegen unverhältnißmäßig klein erſcheint, ſo wird im Erhabenen nicht dies in Betrachtung gezogen, daß dort in der Thiergeſtalt der Begriff des thieriſchen Organismus, der aller- dings ſchon harmoniſchere Ausbildung der Organe in ſich ſchließt, hier der Begriff des reinen menſchlichen Organismus beleidigt iſt, ſondern das Mißverhältniß wirkt im Dienſte der Idee auf der Stufe, wo dieſe eben im dortigen Zuſammenhange ſteht, nämlich der furchterregenden Kraft. Die Sache verhält ſich alſo im Grunde ſo: das Häßliche wurde dort nur ſtoffartig aufgenommen, um im Sinne des Furchtbaren zur reinen Form erhoben zu werden, nun aber ſucht und ſetzt der innere Zuſammenhang des Schönen ſelbſt das Häßliche als den beſtimmenden Begriff, und jetzt tritt die Verkehrung der eigenen, dem Gebilde in- wohnenden Idee als das Weſentliche hervor. §. 149. Ebendarum war der Widerſpruch des Häßlichen nicht in ſeiner Strenge vorhanden, wo dasſelbe im Erhabenen hervortrat, denn die Verkehrung des Einklangs, wodurch das Unterſte zu oberſt geſtellt wird, behauptete ſich dort nicht als ſchön, ſondern war nur Mittel des Furchtbaren. Alle Häßlichkeit, welche furchtbar iſt, fällt aus der reinen Häßlichkeit, die an der gegenwärtigen Stelle auftritt, weg, da der in §. 147 gegebene Uebergang das Häßliche als ſolches fordert, d. h. eine Erſcheinung, welche ſich nicht nur gegen ihre eigene Idee oder gegen die aus ihrer eigenen Gattung fließenden Bildungsgeſetze auf- lehnt, ohne welche ſie doch nichts iſt und deren verzerrtes Bild ſich ſelbſt in der Verkehrung noch darſtellt, ſondern in dieſer Verkehrung ſelbſt das Schöne zu ſeyn ſich anmaßt. 1. Weiße hat das Verdienſt, dem Häßlichen den Ort, der ihm gehört, nämlich auf dem Uebergange vom Erhabenen zum Komiſchen an- gewieſen zu haben; eine Stellung, die durch einen Wink Leſſings an- gedeutet war, von welchem die Rede ſeyn wird. Allein ſowohl er, als Ruge, der ihm folgt, führen hier eine dämoniſche Geſpenſterwelt auf, welche weſentlich grauenhaft iſt und daher unter das Furchtbare, alſo das Erhabene, fällt. (Weiße Aeſth. I, §. 26 — 28. Ruge Neue Vorſch. Viſcher’s Aeſthetik. 1. Bd. 22

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/351>, abgerufen am 19.03.2024.