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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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begriff durch Zufall, aber es ist gefordert von der Idee, wie sie dort
herrscht, als furchtbare Kraft nämlich, und die Kraft muß freilich auch
in der Gattung des Individuums liegen, aber wo sie diese ihrer Reinheit
als solche erscheinen soll, nicht als ihre wahre und höchste Aufgabe. Nun
könnten diejenigen, welche alles Häßliche im Bösen suchen, die Phantasie
als schaffende Ursache des Schönen hier einführen und sagen: aber diese
Störungen ohne Versöhnung darstellen setzt eine Phantasie voraus, die
im Dienste eines bösen Willens steht. Allein das Böse der Phantasie
ist ihr eigenes Böses und heißt Häßlichkeit. Wie das Gute in ihr zum
Schönen aufgehoben ist, so das Böse zum Häßlichen. Diese verkehrte
Welt aber zur Darstellung zu bringen, dazu ist sie bestimmt durch ein
ihrer Welt überhaupt, die eine objective Macht ist, inwohnendes Gesetz
und von diesem ist hier zu reden noch ohne Lob oder Vorwurf für das
subjective Organ, die Phantasie. Hält sie das Häßliche fest, statt es in's
Komische aufzulösen, wie das objective Gesetz es fordert: dann erst tritt
Lob oder Todel ein, und dies gehört in die eigentliche Lehre von der
Phantasie. Hier aber wird das Häßliche aufgeführt, um es alsbald
wieder aufzulösen. Der scheinbare Widerspruch gegen §. 40. 53, wo der
störende Zufall einer völligen Umbildung durch den besondern Act einer
Zusammenziehung zugewiesen wurde, wird im zunächst Folgenden seine
Lösung finden.

§. 151.

Alle diese Formen bis auf die letzte schloß das einfach Schöne nicht aus,
sondern es nahm sie auf, um sie im Sinne der Durchdringung mit der Idee
aufzuheben (§. 47--51); die letzte aber mußte es in der Weise der Zusammen-
ziehung aufheben (§. 53). Allein in den widerstreitenden Formen des Schönen
verändert sich der Umfang der Aufhebung. Das Erhabene hemmt die freie
Ausdehnung auch der im Schönen gestatteten Zufälligkeit; das Häßliche (als
verschwindender Uebergang) läßt auch die verbotene ein. Hierin liegt zunächst
die Schwierigkeit, daß die verschiedenen Formen der Zufälligkeit, wenn sie sich
in der letzten, absolut störenden vereinigen, nicht eine Verkehrung im Schönen
zu begründen sondern überhaupt außer dem Schönen zu liegen scheinen. Allein
die Störung wird nunmehr, da das Schöne ihrer Aufhebung gewiß ist, durch
sein eigenes Gesetz als ein ebenso reiner Schein, wie die einfach schöne Er-
scheinung, hervorgerufen, indem es, um ganz zu seyn, was es ist, sich selbst
als sein Gegentheil zeigt. Ist das Charakteristische die zufällige Eigenheit

begriff durch Zufall, aber es iſt gefordert von der Idee, wie ſie dort
herrſcht, als furchtbare Kraft nämlich, und die Kraft muß freilich auch
in der Gattung des Individuums liegen, aber wo ſie dieſe ihrer Reinheit
als ſolche erſcheinen ſoll, nicht als ihre wahre und höchſte Aufgabe. Nun
könnten diejenigen, welche alles Häßliche im Böſen ſuchen, die Phantaſie
als ſchaffende Urſache des Schönen hier einführen und ſagen: aber dieſe
Störungen ohne Verſöhnung darſtellen ſetzt eine Phantaſie voraus, die
im Dienſte eines böſen Willens ſteht. Allein das Böſe der Phantaſie
iſt ihr eigenes Böſes und heißt Häßlichkeit. Wie das Gute in ihr zum
Schönen aufgehoben iſt, ſo das Böſe zum Häßlichen. Dieſe verkehrte
Welt aber zur Darſtellung zu bringen, dazu iſt ſie beſtimmt durch ein
ihrer Welt überhaupt, die eine objective Macht iſt, inwohnendes Geſetz
und von dieſem iſt hier zu reden noch ohne Lob oder Vorwurf für das
ſubjective Organ, die Phantaſie. Hält ſie das Häßliche feſt, ſtatt es in’s
Komiſche aufzulöſen, wie das objective Geſetz es fordert: dann erſt tritt
Lob oder Todel ein, und dies gehört in die eigentliche Lehre von der
Phantaſie. Hier aber wird das Häßliche aufgeführt, um es alsbald
wieder aufzulöſen. Der ſcheinbare Widerſpruch gegen §. 40. 53, wo der
ſtörende Zufall einer völligen Umbildung durch den beſondern Act einer
Zuſammenziehung zugewieſen wurde, wird im zunächſt Folgenden ſeine
Löſung finden.

§. 151.

Alle dieſe Formen bis auf die letzte ſchloß das einfach Schöne nicht aus,
ſondern es nahm ſie auf, um ſie im Sinne der Durchdringung mit der Idee
aufzuheben (§. 47—51); die letzte aber mußte es in der Weiſe der Zuſammen-
ziehung aufheben (§. 53). Allein in den widerſtreitenden Formen des Schönen
verändert ſich der Umfang der Aufhebung. Das Erhabene hemmt die freie
Ausdehnung auch der im Schönen geſtatteten Zufälligkeit; das Häßliche (als
verſchwindender Uebergang) läßt auch die verbotene ein. Hierin liegt zunächſt
die Schwierigkeit, daß die verſchiedenen Formen der Zufälligkeit, wenn ſie ſich
in der letzten, abſolut ſtörenden vereinigen, nicht eine Verkehrung im Schönen
zu begründen ſondern überhaupt außer dem Schönen zu liegen ſcheinen. Allein
die Störung wird nunmehr, da das Schöne ihrer Aufhebung gewiß iſt, durch
ſein eigenes Geſetz als ein ebenſo reiner Schein, wie die einfach ſchöne Er-
ſcheinung, hervorgerufen, indem es, um ganz zu ſeyn, was es iſt, ſich ſelbſt
als ſein Gegentheil zeigt. Iſt das Charakteriſtiſche die zufällige Eigenheit

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[341/0355] begriff durch Zufall, aber es iſt gefordert von der Idee, wie ſie dort herrſcht, als furchtbare Kraft nämlich, und die Kraft muß freilich auch in der Gattung des Individuums liegen, aber wo ſie dieſe ihrer Reinheit als ſolche erſcheinen ſoll, nicht als ihre wahre und höchſte Aufgabe. Nun könnten diejenigen, welche alles Häßliche im Böſen ſuchen, die Phantaſie als ſchaffende Urſache des Schönen hier einführen und ſagen: aber dieſe Störungen ohne Verſöhnung darſtellen ſetzt eine Phantaſie voraus, die im Dienſte eines böſen Willens ſteht. Allein das Böſe der Phantaſie iſt ihr eigenes Böſes und heißt Häßlichkeit. Wie das Gute in ihr zum Schönen aufgehoben iſt, ſo das Böſe zum Häßlichen. Dieſe verkehrte Welt aber zur Darſtellung zu bringen, dazu iſt ſie beſtimmt durch ein ihrer Welt überhaupt, die eine objective Macht iſt, inwohnendes Geſetz und von dieſem iſt hier zu reden noch ohne Lob oder Vorwurf für das ſubjective Organ, die Phantaſie. Hält ſie das Häßliche feſt, ſtatt es in’s Komiſche aufzulöſen, wie das objective Geſetz es fordert: dann erſt tritt Lob oder Todel ein, und dies gehört in die eigentliche Lehre von der Phantaſie. Hier aber wird das Häßliche aufgeführt, um es alsbald wieder aufzulöſen. Der ſcheinbare Widerſpruch gegen §. 40. 53, wo der ſtörende Zufall einer völligen Umbildung durch den beſondern Act einer Zuſammenziehung zugewieſen wurde, wird im zunächſt Folgenden ſeine Löſung finden. §. 151. Alle dieſe Formen bis auf die letzte ſchloß das einfach Schöne nicht aus, ſondern es nahm ſie auf, um ſie im Sinne der Durchdringung mit der Idee aufzuheben (§. 47—51); die letzte aber mußte es in der Weiſe der Zuſammen- ziehung aufheben (§. 53). Allein in den widerſtreitenden Formen des Schönen verändert ſich der Umfang der Aufhebung. Das Erhabene hemmt die freie Ausdehnung auch der im Schönen geſtatteten Zufälligkeit; das Häßliche (als verſchwindender Uebergang) läßt auch die verbotene ein. Hierin liegt zunächſt die Schwierigkeit, daß die verſchiedenen Formen der Zufälligkeit, wenn ſie ſich in der letzten, abſolut ſtörenden vereinigen, nicht eine Verkehrung im Schönen zu begründen ſondern überhaupt außer dem Schönen zu liegen ſcheinen. Allein die Störung wird nunmehr, da das Schöne ihrer Aufhebung gewiß iſt, durch ſein eigenes Geſetz als ein ebenſo reiner Schein, wie die einfach ſchöne Er- ſcheinung, hervorgerufen, indem es, um ganz zu ſeyn, was es iſt, ſich ſelbſt als ſein Gegentheil zeigt. Iſt das Charakteriſtiſche die zufällige Eigenheit

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/355>, abgerufen am 19.03.2024.