Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

kann (S. 113). Es könnte strenger gesagt seyn, daß eine absolute
Verhärtung im Komischen gar nicht als etwas Vorhandenes statuirt,
daß das Komische die Fälle der Verhärtung, die nur auf dem
Wege des Furchtbaren oder negativ Pathetischen sich reinigen können,
gar nicht sieht. Was nun im häßlichen Subjecte nur erst möglich ist,
diese Besinnung, wird zuerst im Anschauenden wirklich, und dies spricht
Ruge (S. 108) einfach so aus: "die Anschauung, wenn sie doch die
Anschauung dessen ist, was ist, kann die Häßlichkeit gar nicht anschauen,
denn wenn der Geist das wirklich sieht, was er ist, so besinnt er sich
ja über sich selbst." Das anschauende Subject eilt darin freilich dem
angeschauten voraus und in diesem Punkte liegt hier der Gegensatz sowohl
gegen das einfach Schöne, als gegen das Erhabene. Im einfach Schönen ist
der Gegenstand als reine Einheit der Idee und des Bildes fertig, ehe das
anschauende Subject sich mit ihm zusammenbewegt, ja die Idee sitzt so
tief und fest, daß dieses von ihr zuerst gleichsam getäuscht wird, indem
es, sinnlich angelockt, sie mitzuschauen bekommt ohne ein ausdrückliches
Bewußtseyn darüber. Im Erhabenen dagegen ist die Idee so gegensätzlich
thätig, daß das anschauende Subject gleich nach dem ersten Blick von ihr
geblendet und sogar zurückgestoßen wird. Im Komischen aber überholt
das anschauende Subject das angeschaute und entbindet in diesem die in
Trübung verhüllte Idee. Wir finden schon hier die Bestimmung, daß
das Komische die subjectivste Form des Schönen ist. Allein diese Be-
stimmung ist einseitig, wenn man sie nicht eben auf jenes Entbinden
begründet, das Zusammengehen des Subjects mit dem Objecte. In der
Entwicklung dieses Punktes nun hat Ruge seine vorzüglichste Stärke.
Der §. hat sich zunächst einfach auf den Satz §. 70 berufen, daß in
allem Schönen das Subject im Objecte mitgesetzt ist. Dies ist aber noch
ganz abstract. Wir sollen erst sehen, wie sich beide zusammenbewegen;
dann werden wir auch auf Ruge zurückkommen.

§. 154.

1

Diese Entbindung der Besinnung im häßlichen Subjecte ist nun zwar
wie der ganze Vorgang und alles Aesthetische überhaupt nichts blos Gedachtes,
sondern das, woran sie anknüpft, muß in die Anschauung treten, aber es liegt
2nicht in dem Sinne ein im Gegenstand selbst wirklicher Prozeß vor, daß das
angeschaute Subject darum zur Schönheit zurückkehrte, denn es bleibt dabei,
daß das Bild sein ästhetisches Recht auf Kosten der Idee behauptet. Negirt

kann (S. 113). Es könnte ſtrenger geſagt ſeyn, daß eine abſolute
Verhärtung im Komiſchen gar nicht als etwas Vorhandenes ſtatuirt,
daß das Komiſche die Fälle der Verhärtung, die nur auf dem
Wege des Furchtbaren oder negativ Pathetiſchen ſich reinigen können,
gar nicht ſieht. Was nun im häßlichen Subjecte nur erſt möglich iſt,
dieſe Beſinnung, wird zuerſt im Anſchauenden wirklich, und dies ſpricht
Ruge (S. 108) einfach ſo aus: „die Anſchauung, wenn ſie doch die
Anſchauung deſſen iſt, was iſt, kann die Häßlichkeit gar nicht anſchauen,
denn wenn der Geiſt das wirklich ſieht, was er iſt, ſo beſinnt er ſich
ja über ſich ſelbſt.“ Das anſchauende Subject eilt darin freilich dem
angeſchauten voraus und in dieſem Punkte liegt hier der Gegenſatz ſowohl
gegen das einfach Schöne, als gegen das Erhabene. Im einfach Schönen iſt
der Gegenſtand als reine Einheit der Idee und des Bildes fertig, ehe das
anſchauende Subject ſich mit ihm zuſammenbewegt, ja die Idee ſitzt ſo
tief und feſt, daß dieſes von ihr zuerſt gleichſam getäuſcht wird, indem
es, ſinnlich angelockt, ſie mitzuſchauen bekommt ohne ein ausdrückliches
Bewußtſeyn darüber. Im Erhabenen dagegen iſt die Idee ſo gegenſätzlich
thätig, daß das anſchauende Subject gleich nach dem erſten Blick von ihr
geblendet und ſogar zurückgeſtoßen wird. Im Komiſchen aber überholt
das anſchauende Subject das angeſchaute und entbindet in dieſem die in
Trübung verhüllte Idee. Wir finden ſchon hier die Beſtimmung, daß
das Komiſche die ſubjectivſte Form des Schönen iſt. Allein dieſe Be-
ſtimmung iſt einſeitig, wenn man ſie nicht eben auf jenes Entbinden
begründet, das Zuſammengehen des Subjects mit dem Objecte. In der
Entwicklung dieſes Punktes nun hat Ruge ſeine vorzüglichſte Stärke.
Der §. hat ſich zunächſt einfach auf den Satz §. 70 berufen, daß in
allem Schönen das Subject im Objecte mitgeſetzt iſt. Dies iſt aber noch
ganz abſtract. Wir ſollen erſt ſehen, wie ſich beide zuſammenbewegen;
dann werden wir auch auf Ruge zurückkommen.

§. 154.

1

Dieſe Entbindung der Beſinnung im häßlichen Subjecte iſt nun zwar
wie der ganze Vorgang und alles Aeſthetiſche überhaupt nichts blos Gedachtes,
ſondern das, woran ſie anknüpft, muß in die Anſchauung treten, aber es liegt
2nicht in dem Sinne ein im Gegenſtand ſelbſt wirklicher Prozeß vor, daß das
angeſchaute Subject darum zur Schönheit zurückkehrte, denn es bleibt dabei,
daß das Bild ſein äſthetiſches Recht auf Koſten der Idee behauptet. Negirt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0360" n="346"/>
kann (S. 113). Es könnte &#x017F;trenger ge&#x017F;agt &#x017F;eyn, daß eine ab&#x017F;olute<lb/>
Verhärtung im Komi&#x017F;chen gar nicht als etwas Vorhandenes &#x017F;tatuirt,<lb/>
daß das Komi&#x017F;che die Fälle der Verhärtung, die nur auf dem<lb/>
Wege des Furchtbaren oder negativ Patheti&#x017F;chen &#x017F;ich reinigen können,<lb/>
gar nicht &#x017F;ieht. Was nun im häßlichen Subjecte nur er&#x017F;t möglich i&#x017F;t,<lb/>
die&#x017F;e Be&#x017F;innung, wird zuer&#x017F;t im An&#x017F;chauenden wirklich, und dies &#x017F;pricht<lb/><hi rendition="#g">Ruge</hi> (S. 108) einfach &#x017F;o aus: &#x201E;die An&#x017F;chauung, wenn &#x017F;ie doch die<lb/>
An&#x017F;chauung de&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, was <hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi>, kann die Häßlichkeit gar nicht an&#x017F;chauen,<lb/>
denn wenn der Gei&#x017F;t das wirklich &#x017F;ieht, was er <hi rendition="#g">i&#x017F;t</hi>, &#x017F;o be&#x017F;innt er &#x017F;ich<lb/>
ja über &#x017F;ich <hi rendition="#g">&#x017F;elb&#x017F;t</hi>.&#x201C; Das an&#x017F;chauende Subject eilt darin freilich dem<lb/>
ange&#x017F;chauten voraus und in die&#x017F;em Punkte liegt hier der Gegen&#x017F;atz &#x017F;owohl<lb/>
gegen das einfach Schöne, als gegen das Erhabene. Im einfach Schönen i&#x017F;t<lb/>
der Gegen&#x017F;tand als reine Einheit der Idee und des Bildes fertig, ehe das<lb/>
an&#x017F;chauende Subject &#x017F;ich mit ihm zu&#x017F;ammenbewegt, ja die Idee &#x017F;itzt &#x017F;o<lb/>
tief und fe&#x017F;t, daß die&#x017F;es von ihr zuer&#x017F;t gleich&#x017F;am getäu&#x017F;cht wird, indem<lb/>
es, &#x017F;innlich angelockt, &#x017F;ie mitzu&#x017F;chauen bekommt ohne ein ausdrückliches<lb/>
Bewußt&#x017F;eyn darüber. Im Erhabenen dagegen i&#x017F;t die Idee &#x017F;o gegen&#x017F;ätzlich<lb/>
thätig, daß das an&#x017F;chauende Subject gleich nach dem er&#x017F;ten Blick von ihr<lb/>
geblendet und &#x017F;ogar zurückge&#x017F;toßen wird. Im Komi&#x017F;chen aber überholt<lb/>
das an&#x017F;chauende Subject das ange&#x017F;chaute und entbindet in die&#x017F;em die in<lb/>
Trübung verhüllte Idee. Wir finden &#x017F;chon hier die Be&#x017F;timmung, daß<lb/>
das Komi&#x017F;che die &#x017F;ubjectiv&#x017F;te Form des Schönen i&#x017F;t. Allein die&#x017F;e Be-<lb/>
&#x017F;timmung i&#x017F;t ein&#x017F;eitig, wenn man &#x017F;ie nicht eben auf jenes Entbinden<lb/>
begründet, das Zu&#x017F;ammengehen des Subjects mit dem Objecte. In der<lb/>
Entwicklung die&#x017F;es Punktes nun hat <hi rendition="#g">Ruge</hi> &#x017F;eine vorzüglich&#x017F;te Stärke.<lb/>
Der §. hat &#x017F;ich zunäch&#x017F;t einfach auf den Satz §. 70 berufen, daß in<lb/>
allem Schönen das Subject im Objecte mitge&#x017F;etzt i&#x017F;t. Dies i&#x017F;t aber noch<lb/>
ganz ab&#x017F;tract. Wir &#x017F;ollen er&#x017F;t &#x017F;ehen, <hi rendition="#g">wie</hi> &#x017F;ich beide zu&#x017F;ammenbewegen;<lb/>
dann werden wir auch auf <hi rendition="#g">Ruge</hi> zurückkommen.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 154.</head><lb/>
              <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
              <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;e Entbindung der Be&#x017F;innung im häßlichen Subjecte i&#x017F;t nun zwar<lb/>
wie der ganze Vorgang und alles Ae&#x017F;theti&#x017F;che überhaupt nichts blos Gedachtes,<lb/>
&#x017F;ondern das, woran &#x017F;ie anknüpft, muß in die An&#x017F;chauung treten, aber es liegt<lb/><note place="left">2</note>nicht in dem Sinne ein im Gegen&#x017F;tand &#x017F;elb&#x017F;t wirklicher Prozeß vor, daß das<lb/>
ange&#x017F;chaute Subject darum zur Schönheit zurückkehrte, denn es bleibt dabei,<lb/>
daß das Bild &#x017F;ein ä&#x017F;theti&#x017F;ches Recht auf Ko&#x017F;ten der Idee behauptet. Negirt<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[346/0360] kann (S. 113). Es könnte ſtrenger geſagt ſeyn, daß eine abſolute Verhärtung im Komiſchen gar nicht als etwas Vorhandenes ſtatuirt, daß das Komiſche die Fälle der Verhärtung, die nur auf dem Wege des Furchtbaren oder negativ Pathetiſchen ſich reinigen können, gar nicht ſieht. Was nun im häßlichen Subjecte nur erſt möglich iſt, dieſe Beſinnung, wird zuerſt im Anſchauenden wirklich, und dies ſpricht Ruge (S. 108) einfach ſo aus: „die Anſchauung, wenn ſie doch die Anſchauung deſſen iſt, was iſt, kann die Häßlichkeit gar nicht anſchauen, denn wenn der Geiſt das wirklich ſieht, was er iſt, ſo beſinnt er ſich ja über ſich ſelbſt.“ Das anſchauende Subject eilt darin freilich dem angeſchauten voraus und in dieſem Punkte liegt hier der Gegenſatz ſowohl gegen das einfach Schöne, als gegen das Erhabene. Im einfach Schönen iſt der Gegenſtand als reine Einheit der Idee und des Bildes fertig, ehe das anſchauende Subject ſich mit ihm zuſammenbewegt, ja die Idee ſitzt ſo tief und feſt, daß dieſes von ihr zuerſt gleichſam getäuſcht wird, indem es, ſinnlich angelockt, ſie mitzuſchauen bekommt ohne ein ausdrückliches Bewußtſeyn darüber. Im Erhabenen dagegen iſt die Idee ſo gegenſätzlich thätig, daß das anſchauende Subject gleich nach dem erſten Blick von ihr geblendet und ſogar zurückgeſtoßen wird. Im Komiſchen aber überholt das anſchauende Subject das angeſchaute und entbindet in dieſem die in Trübung verhüllte Idee. Wir finden ſchon hier die Beſtimmung, daß das Komiſche die ſubjectivſte Form des Schönen iſt. Allein dieſe Be- ſtimmung iſt einſeitig, wenn man ſie nicht eben auf jenes Entbinden begründet, das Zuſammengehen des Subjects mit dem Objecte. In der Entwicklung dieſes Punktes nun hat Ruge ſeine vorzüglichſte Stärke. Der §. hat ſich zunächſt einfach auf den Satz §. 70 berufen, daß in allem Schönen das Subject im Objecte mitgeſetzt iſt. Dies iſt aber noch ganz abſtract. Wir ſollen erſt ſehen, wie ſich beide zuſammenbewegen; dann werden wir auch auf Ruge zurückkommen. §. 154. Dieſe Entbindung der Beſinnung im häßlichen Subjecte iſt nun zwar wie der ganze Vorgang und alles Aeſthetiſche überhaupt nichts blos Gedachtes, ſondern das, woran ſie anknüpft, muß in die Anſchauung treten, aber es liegt nicht in dem Sinne ein im Gegenſtand ſelbſt wirklicher Prozeß vor, daß das angeſchaute Subject darum zur Schönheit zurückkehrte, denn es bleibt dabei, daß das Bild ſein äſthetiſches Recht auf Koſten der Idee behauptet. Negirt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/360
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/360>, abgerufen am 19.03.2024.