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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Komischen acceptirt werde. Aber welche Frivolität gegen die jenseitige
Idee ist dies!

§. 155.

Das Ganze dieser Bewegung ist das Komische. Indem sich dieselbe
nun in ihren Momente bestimmter entwickelt, so muß, obwohl die Rang-
Ordnung dieser Momente verglichen mit dem Erhabenen die umgekehrte ist,
dennoch zuerst ein Erhabenes irgend einer Art hervortreten. Die Eigenmacht
der das Erhabene entstellenden begrenzten Erscheinung ist nämlich zwar dem
Werthe nach jetzt das Erste und das Subject des ganzen Vorgangs, setzt aber
das Erhabene als Object seiner eigenmächtigen Thätigkeit voraus. Dies ist
eine Begriffsfolge, welche ebensosehr auch eine Zeitfolge seyn kann, indem der
komische Vorgang mit einem gegen das Subject sich heranbewegenden Erhabenen
beginnt; ist aber das, was sich zuerst aufdringt, ein bereits in Entstellung ver-
stricktes Erhabenes, so folgt nothwendig auf den ersten Anblick ein Rückblick,
der die Zeitfolge der Eindrücke nach der Folge der Begriffe umkehrt.

Die Zeitfolge ist klar, wo immer etwas großartig beginnt und
plötzlich in Kleinheit verschwindet, wie alles Stocken und Steckenbleiben
der Rede oder Einmischung platter Ausdrücke in rhetorisches Pathos,
Straucheln und Fallen im stolzen Gang u. s. w. Parturiunt montes, nas-
cetur ridiculus mus
. Dagegen dringt sich zuerst die Entstellung auf
z. B. in der Fabel von dem Frosch, der sich zur Größe des Ochsen auf-
zublasen bemüht, in jeder häßlichen Menschengestalt, welche sich erhaben
anschickt, wie z. B. Shakespeares Pistol, der "aufgespreizte kalekutische
Hahn" u. s. w. Allein im letzteren Falle wird die Folge der Eindrücke
im Bewußtseyn des Wahrnehmenden umgedreht. Man sieht zwar zuerst
ein Kleines oder Entstelltes, das sich sofort aufbläht, allein das Auf-
blähen wird zu nichte und nun geht der Zuschauer zurück, hält den
Gegenstand, der in seiner Kleinheit nicht aufgefallen wäre, wenn er sich
nicht aufgebläht hätte, mit der Größe zusammen, zu der er sich auf-
treiben wollte, legt ihm diese als Folie unter und so hat er zuerst ein
Erhabenes, das, indem es wirklich werden wollte, in seinem entstellenden
Gefäße sich verkehrte. J. Paul nennt das Komische den Erbfeind des
Erhabenen (a. a. O. §. 26) und den Humor ein umgekehrtes Erhabenes
(a. a. O. §. 32). Auch das Letztere gilt von allem Komischen. Dies ist
jedoch nicht die Rang-Ordnung, sondern nur die Folge der Momente,

Komiſchen acceptirt werde. Aber welche Frivolität gegen die jenſeitige
Idee iſt dies!

§. 155.

Das Ganze dieſer Bewegung iſt das Komiſche. Indem ſich dieſelbe
nun in ihren Momente beſtimmter entwickelt, ſo muß, obwohl die Rang-
Ordnung dieſer Momente verglichen mit dem Erhabenen die umgekehrte iſt,
dennoch zuerſt ein Erhabenes irgend einer Art hervortreten. Die Eigenmacht
der das Erhabene entſtellenden begrenzten Erſcheinung iſt nämlich zwar dem
Werthe nach jetzt das Erſte und das Subject des ganzen Vorgangs, ſetzt aber
das Erhabene als Object ſeiner eigenmächtigen Thätigkeit voraus. Dies iſt
eine Begriffsfolge, welche ebenſoſehr auch eine Zeitfolge ſeyn kann, indem der
komiſche Vorgang mit einem gegen das Subject ſich heranbewegenden Erhabenen
beginnt; iſt aber das, was ſich zuerſt aufdringt, ein bereits in Entſtellung ver-
ſtricktes Erhabenes, ſo folgt nothwendig auf den erſten Anblick ein Rückblick,
der die Zeitfolge der Eindrücke nach der Folge der Begriffe umkehrt.

Die Zeitfolge iſt klar, wo immer etwas großartig beginnt und
plötzlich in Kleinheit verſchwindet, wie alles Stocken und Steckenbleiben
der Rede oder Einmiſchung platter Ausdrücke in rhetoriſches Pathos,
Straucheln und Fallen im ſtolzen Gang u. ſ. w. Parturiunt montes, nas-
cetur ridiculus mus
. Dagegen dringt ſich zuerſt die Entſtellung auf
z. B. in der Fabel von dem Froſch, der ſich zur Größe des Ochſen auf-
zublaſen bemüht, in jeder häßlichen Menſchengeſtalt, welche ſich erhaben
anſchickt, wie z. B. Shakespeares Piſtol, der „aufgeſpreizte kalekutiſche
Hahn“ u. ſ. w. Allein im letzteren Falle wird die Folge der Eindrücke
im Bewußtſeyn des Wahrnehmenden umgedreht. Man ſieht zwar zuerſt
ein Kleines oder Entſtelltes, das ſich ſofort aufbläht, allein das Auf-
blähen wird zu nichte und nun geht der Zuſchauer zurück, hält den
Gegenſtand, der in ſeiner Kleinheit nicht aufgefallen wäre, wenn er ſich
nicht aufgebläht hätte, mit der Größe zuſammen, zu der er ſich auf-
treiben wollte, legt ihm dieſe als Folie unter und ſo hat er zuerſt ein
Erhabenes, das, indem es wirklich werden wollte, in ſeinem entſtellenden
Gefäße ſich verkehrte. J. Paul nennt das Komiſche den Erbfeind des
Erhabenen (a. a. O. §. 26) und den Humor ein umgekehrtes Erhabenes
(a. a. O. §. 32). Auch das Letztere gilt von allem Komiſchen. Dies iſt
jedoch nicht die Rang-Ordnung, ſondern nur die Folge der Momente,

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[350/0364] Komiſchen acceptirt werde. Aber welche Frivolität gegen die jenſeitige Idee iſt dies! §. 155. Das Ganze dieſer Bewegung iſt das Komiſche. Indem ſich dieſelbe nun in ihren Momente beſtimmter entwickelt, ſo muß, obwohl die Rang- Ordnung dieſer Momente verglichen mit dem Erhabenen die umgekehrte iſt, dennoch zuerſt ein Erhabenes irgend einer Art hervortreten. Die Eigenmacht der das Erhabene entſtellenden begrenzten Erſcheinung iſt nämlich zwar dem Werthe nach jetzt das Erſte und das Subject des ganzen Vorgangs, ſetzt aber das Erhabene als Object ſeiner eigenmächtigen Thätigkeit voraus. Dies iſt eine Begriffsfolge, welche ebenſoſehr auch eine Zeitfolge ſeyn kann, indem der komiſche Vorgang mit einem gegen das Subject ſich heranbewegenden Erhabenen beginnt; iſt aber das, was ſich zuerſt aufdringt, ein bereits in Entſtellung ver- ſtricktes Erhabenes, ſo folgt nothwendig auf den erſten Anblick ein Rückblick, der die Zeitfolge der Eindrücke nach der Folge der Begriffe umkehrt. Die Zeitfolge iſt klar, wo immer etwas großartig beginnt und plötzlich in Kleinheit verſchwindet, wie alles Stocken und Steckenbleiben der Rede oder Einmiſchung platter Ausdrücke in rhetoriſches Pathos, Straucheln und Fallen im ſtolzen Gang u. ſ. w. Parturiunt montes, nas- cetur ridiculus mus. Dagegen dringt ſich zuerſt die Entſtellung auf z. B. in der Fabel von dem Froſch, der ſich zur Größe des Ochſen auf- zublaſen bemüht, in jeder häßlichen Menſchengeſtalt, welche ſich erhaben anſchickt, wie z. B. Shakespeares Piſtol, der „aufgeſpreizte kalekutiſche Hahn“ u. ſ. w. Allein im letzteren Falle wird die Folge der Eindrücke im Bewußtſeyn des Wahrnehmenden umgedreht. Man ſieht zwar zuerſt ein Kleines oder Entſtelltes, das ſich ſofort aufbläht, allein das Auf- blähen wird zu nichte und nun geht der Zuſchauer zurück, hält den Gegenſtand, der in ſeiner Kleinheit nicht aufgefallen wäre, wenn er ſich nicht aufgebläht hätte, mit der Größe zuſammen, zu der er ſich auf- treiben wollte, legt ihm dieſe als Folie unter und ſo hat er zuerſt ein Erhabenes, das, indem es wirklich werden wollte, in ſeinem entſtellenden Gefäße ſich verkehrte. J. Paul nennt das Komiſche den Erbfeind des Erhabenen (a. a. O. §. 26) und den Humor ein umgekehrtes Erhabenes (a. a. O. §. 32). Auch das Letztere gilt von allem Komiſchen. Dies iſt jedoch nicht die Rang-Ordnung, ſondern nur die Folge der Momente,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/364>, abgerufen am 19.03.2024.