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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Wenn übrigens Ruge J. Pauls Bemerkung dahin erläutert, daß Hunde
und Affen fast die einzigen Komiker unter den Thieren seyen, so sind doch
Bären, Böcke, Katzen, Eichhörnchen etc. auch nicht zu vergessen, und fast alle
Thiere, wenn sie jung sind, erheitern durch die Freiheit des Spieles, das
doch zugleich Naturnothwendigkeit ist. Davon noch ein Wort, wenn
von Stephan Schützes Theorie die Rede seyn wird. --

§. 159.

1

Der wahre Stoff des Komischen eröffnet sich jedoch allerdings erst mit
dem Erhabenen des Subjects. Hier tritt überall die zum Komischen noth-
wendige Entstellung ein, wo das Selbstbewußte durch das Unbewußte, wovon
es umgeben und womit es selbst behaftet ist, in der Strenge des Zusammen-
hangs seiner Thätigkeit unterbrochen wird. Das Komische der Kraft, wenn es
am wirklichen Subjecte erscheint, tritt nun selbst in diese höhere Bedeutung ein.
2Faßt man den Begriff des Naiven in so weitem Sinne, daß er überhaupt das
Eintreten eines beziehungsweise Unbewußten, wo man Bewußtes erwartete, be-
zeichnet, so kann alles Komische als naiv bestimmt werden. Im engeren Sinne
3aber hat das Naive seine besondere Sphäre, nämlich die des Anstands. Der
Anstand als ein Verbergen der Natur aus geselligen Rücksichten ist zu sehr
blos formell, um in das Erhabene aufgenommen zu werden, wo aber zwischen
seine künstlichen Vorschriften unerwartet reine Natur hervorbricht, erscheint er
als ein Zwang, der erhaben seyn wollte und in diesem Versuche erliegt.

2. Das Komische ist deßwegen besonders schwer zu entwickeln, weil
seine Gegenglieder getrennt zu beschreiben sind und doch mit dem ersten
immer schon das zweite zu nennen ist. So muß hier ausgesprochen
werden, in was das Erhabene des Subjects sich verstrickt, wenn es
komisch wird. Es ist das Unbewußte. Angedeutet ist, daß es von außen
aufstoßen oder von innen aufsteigen kann, aber dies und wie selbst der
erstere Fall auf ein innerlich Unbewußtes hinauskommt, ist später aus-
einander zu setzen. Im Komischen der Kraft wurde (§. 158) bereits
auch die menschliche Gestalt und Bewegung unter den Beispielen auf-
geführt. Wo aber das Subject als ein selbstbewußtes wirklich das erste
Glied bildet, treten die Mißbildungen und Verstöße der Seele, wie sie
als unbewußte Kraft den Leib bildet und bewegt, in einen ganz andern
Zusammenhang. Man kann über eine thierische Mißbildung lachen, aber
ganz anders über eine menschliche, weil der Ausdruck des wirklichen

Wenn übrigens Ruge J. Pauls Bemerkung dahin erläutert, daß Hunde
und Affen faſt die einzigen Komiker unter den Thieren ſeyen, ſo ſind doch
Bären, Böcke, Katzen, Eichhörnchen ꝛc. auch nicht zu vergeſſen, und faſt alle
Thiere, wenn ſie jung ſind, erheitern durch die Freiheit des Spieles, das
doch zugleich Naturnothwendigkeit iſt. Davon noch ein Wort, wenn
von Stephan Schützes Theorie die Rede ſeyn wird. —

§. 159.

1

Der wahre Stoff des Komiſchen eröffnet ſich jedoch allerdings erſt mit
dem Erhabenen des Subjects. Hier tritt überall die zum Komiſchen noth-
wendige Entſtellung ein, wo das Selbſtbewußte durch das Unbewußte, wovon
es umgeben und womit es ſelbſt behaftet iſt, in der Strenge des Zuſammen-
hangs ſeiner Thätigkeit unterbrochen wird. Das Komiſche der Kraft, wenn es
am wirklichen Subjecte erſcheint, tritt nun ſelbſt in dieſe höhere Bedeutung ein.
2Faßt man den Begriff des Naiven in ſo weitem Sinne, daß er überhaupt das
Eintreten eines beziehungsweiſe Unbewußten, wo man Bewußtes erwartete, be-
zeichnet, ſo kann alles Komiſche als naiv beſtimmt werden. Im engeren Sinne
3aber hat das Naive ſeine beſondere Sphäre, nämlich die des Anſtands. Der
Anſtand als ein Verbergen der Natur aus geſelligen Rückſichten iſt zu ſehr
blos formell, um in das Erhabene aufgenommen zu werden, wo aber zwiſchen
ſeine künſtlichen Vorſchriften unerwartet reine Natur hervorbricht, erſcheint er
als ein Zwang, der erhaben ſeyn wollte und in dieſem Verſuche erliegt.

2. Das Komiſche iſt deßwegen beſonders ſchwer zu entwickeln, weil
ſeine Gegenglieder getrennt zu beſchreiben ſind und doch mit dem erſten
immer ſchon das zweite zu nennen iſt. So muß hier ausgeſprochen
werden, in was das Erhabene des Subjects ſich verſtrickt, wenn es
komiſch wird. Es iſt das Unbewußte. Angedeutet iſt, daß es von außen
aufſtoßen oder von innen aufſteigen kann, aber dies und wie ſelbſt der
erſtere Fall auf ein innerlich Unbewußtes hinauskommt, iſt ſpäter aus-
einander zu ſetzen. Im Komiſchen der Kraft wurde (§. 158) bereits
auch die menſchliche Geſtalt und Bewegung unter den Beiſpielen auf-
geführt. Wo aber das Subject als ein ſelbſtbewußtes wirklich das erſte
Glied bildet, treten die Mißbildungen und Verſtöße der Seele, wie ſie
als unbewußte Kraft den Leib bildet und bewegt, in einen ganz andern
Zuſammenhang. Man kann über eine thieriſche Mißbildung lachen, aber
ganz anders über eine menſchliche, weil der Ausdruck des wirklichen

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[356/0370] Wenn übrigens Ruge J. Pauls Bemerkung dahin erläutert, daß Hunde und Affen faſt die einzigen Komiker unter den Thieren ſeyen, ſo ſind doch Bären, Böcke, Katzen, Eichhörnchen ꝛc. auch nicht zu vergeſſen, und faſt alle Thiere, wenn ſie jung ſind, erheitern durch die Freiheit des Spieles, das doch zugleich Naturnothwendigkeit iſt. Davon noch ein Wort, wenn von Stephan Schützes Theorie die Rede ſeyn wird. — §. 159. Der wahre Stoff des Komiſchen eröffnet ſich jedoch allerdings erſt mit dem Erhabenen des Subjects. Hier tritt überall die zum Komiſchen noth- wendige Entſtellung ein, wo das Selbſtbewußte durch das Unbewußte, wovon es umgeben und womit es ſelbſt behaftet iſt, in der Strenge des Zuſammen- hangs ſeiner Thätigkeit unterbrochen wird. Das Komiſche der Kraft, wenn es am wirklichen Subjecte erſcheint, tritt nun ſelbſt in dieſe höhere Bedeutung ein. Faßt man den Begriff des Naiven in ſo weitem Sinne, daß er überhaupt das Eintreten eines beziehungsweiſe Unbewußten, wo man Bewußtes erwartete, be- zeichnet, ſo kann alles Komiſche als naiv beſtimmt werden. Im engeren Sinne aber hat das Naive ſeine beſondere Sphäre, nämlich die des Anſtands. Der Anſtand als ein Verbergen der Natur aus geſelligen Rückſichten iſt zu ſehr blos formell, um in das Erhabene aufgenommen zu werden, wo aber zwiſchen ſeine künſtlichen Vorſchriften unerwartet reine Natur hervorbricht, erſcheint er als ein Zwang, der erhaben ſeyn wollte und in dieſem Verſuche erliegt. 2. Das Komiſche iſt deßwegen beſonders ſchwer zu entwickeln, weil ſeine Gegenglieder getrennt zu beſchreiben ſind und doch mit dem erſten immer ſchon das zweite zu nennen iſt. So muß hier ausgeſprochen werden, in was das Erhabene des Subjects ſich verſtrickt, wenn es komiſch wird. Es iſt das Unbewußte. Angedeutet iſt, daß es von außen aufſtoßen oder von innen aufſteigen kann, aber dies und wie ſelbſt der erſtere Fall auf ein innerlich Unbewußtes hinauskommt, iſt ſpäter aus- einander zu ſetzen. Im Komiſchen der Kraft wurde (§. 158) bereits auch die menſchliche Geſtalt und Bewegung unter den Beiſpielen auf- geführt. Wo aber das Subject als ein ſelbſtbewußtes wirklich das erſte Glied bildet, treten die Mißbildungen und Verſtöße der Seele, wie ſie als unbewußte Kraft den Leib bildet und bewegt, in einen ganz andern Zuſammenhang. Man kann über eine thieriſche Mißbildung lachen, aber ganz anders über eine menſchliche, weil der Ausdruck des wirklichen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/370>, abgerufen am 19.03.2024.